Ausgabe

Editorial

Liebe Leser*innen,

die rassistische Propaganda hat Wirkung gezeigt. In Umfragen sprechen sich heute 70 Prozent der Befragten dafür aus, dass die BRD weniger Geflüchtete aufnehmen soll. Vor zehn Jahren waren es 20 Prozent. Wenn psychisch kranke Menschen Verbrechen begehen, ist das tragisch, egal wo sie her kommen. Dass unter den fast immer männlichen Tätern auch Geflüchtete sind, zeigt, dass traumatisierte, aus Kriegsgebieten geflohene Menschen hier zu wenig psychologische Hilfe erhalten. Anstatt eine menschenwürdige Behandlung aller Menschen zu fordern, hetzen Medien und Politiker*innen gegen Migrant*innen und machen sie zu Sündenböcken. Die rassistischen Übergriffe gegen Menschen mit erkennbarer Migrationsgeschichte haben unerträglich zugenommen.

Der Faschismus ist ein schleichender Prozess

Einen Schritt in Richtung Faschismus haben CDU/CSU, FDP und BSW gemacht, als sie sich am 29. Januar mit der in großen Teilen neofaschistischen AfD im Bundestag ins Bett legten, um einen rassistischen Antrag auf Zurückweisung von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen zu verabschieden. Daraufhin kam es bundesweit zu Protesten. In Münster beteiligte ich mich für die GWR am 30. Januar mit einem spontanen Redebeitrag an der Demo von 4.000 Antifas gegen die Zusammenarbeit von Union und AfD: „Die Brandmauer im Bundestag ist gestern gefallen. Die Brandmauer hier steht. Wir sind die Brandmauer!“ (1) Es war die wütendste Rede meines Lebens.
Die linke Bundestagsabgeordnete Heidi Reichinnek hielt am 29. Januar im Bundestag eine flammende Rede (2) gegen den Pakt mit den Faschisten. Diese Rede ging viral. Das hat zusammen mit den vielen Demos dazu beigetragen, dass die nach der Abspaltung der Wagenknechte totgesagte Partei bei der Bundestagswahl am 23. Februar 8,77 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt, was aus antifaschistischer und anarchistischer Sicht erfreulich ist.
Die AfD verdoppelte bei der Wahl ihr Ergebnis auf 20,8 %. In Ostdeutschland dominiert sie. Eine Katastrophe. Angesichts der unter Merz nach rechts gedrifteten CDU/CSU ist zu befürchten, dass die jetzt angestrebte Koalition aus Union (28,5 %) und SPD (16,4 %) nicht bis zur nächsten Bundestagswahl halten und eine Machtbeteiligung der AfD wahrscheinlicher wird.
Umso wichtiger ist es, dass wir dem Rassismus auf der Straße und im Alltag entgegentreten. Die Zivilgesellschaft gegen rechts lebt. Als außerparlamentarisches Sprachrohr will die Graswurzelrevolution die sozialen Bewegungen solidarisch begleiten und Utopien für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft befördern.
Wichtig ist dabei auch ein Blick auf frühere Kämpfe, wie der erfolgreiche Widerstand gegen die Atomstaatspolitik. Mit der Besetzung des AKW-Bauplatzes in Wyhl wurde vor 50 Jahren durch direkte gewaltfreie Aktionen erstmals der Bau eines Atomkraftwerks verhindert. Der massenhafte gewaltfreie Widerstand in Wyhl gilt als Geburtsstunde der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung und führte zum Anwachsen der Graswurzelbewegung. Einen Bericht dazu findet Ihr auf Seite 1 und 11. Als historische Anregung könnt Ihr auch Gisela Notz’ Artikel über die kaum bekannte Anarchistin Milly Witkop-Rocker (S. 9) lesen.
Inspiration für das Weiterentwickeln anarchistischer Ideen, Praxen und Perspektiven bietet die neue Ausgabe der Libertären Buchseiten auf den Seiten 13 bis 24. Darin findet Ihr, neben Buchbesprechungen, auch ein Interview mit der Bibliothek der Freien.
Erschütternd ist dagegen das Interview von Ewa Michalska und Adrian Sekura mit der aus Äthiopien geflüchteten Anna (S. 3f.). Es weckt Empathie und zeigt, wie krass die Situation für Geflüchtete an der polnischen EU-Außengrenze ist.
Noch immer verfolgt durch die türkische Justiz wird die im französischen Exil lebende Anarchafeministin Pınar Selek (S. 2).
Olga Karach skizziert in ihrem Artikel „Geschlechtsspezifische Repression“ (S. 5) die harte Realität für Frauen in Belarus.
Andreas Kemper beleuchtet mit seinem Beitrag „Neoaristokratischer Antifeminismus“ (S. 1, 10), wie etwa einhundert „Adelige“ im deutschsprachigen Raum den familienbezogenen Antifeminismus dominieren.

Was hilft gegen Antifeminismus? Feminismus!

Den feministischen Schwerpunkt dieser GWR hat dankenswerterweise – passend zum 8. März – vor allem GWR-Mitherausgeberin Silke organisiert. Chiara Oschika berichtet über den täglichen Kampf ums Überleben im queerfeindlichen Knast in Ungarn (S. 6). Die anarchosyndikalistische fem*FAU will den Kapitalismus und das Patriarchat überwinden und macht unter dem Titel „Das Patriarchat bestreiken“ (S. 7) klar, dass feministisch streiken für sie auch heißt, sich gewerkschaftlich zu organisieren.
Isabelle Braun beschreibt den Umgang mit sexualisierter Gewalt: „Was dann?!“ (S. 7)
Die Feministische Intervention Karlsruhe stellt fest, dass es mit der Kampagne „Abtreibung legalisieren jetzt“ (S. 8) gelungen ist, das Thema Schwangerschaftsabbruch und die damit verbundene Kriminalisierung in die Öffentlichkeit zu bringen.
Die monatliche Kolumne „so süß wie maschinenöl“ findet Ihr diesmal auf Seite 12. Die Comic-Glosse und viele spannende Artikel mussten wir aufgrund von Platzmangel verschieben. Sie erscheinen voraussichtlich im April in der GWR 498.

Viel Spaß beim Lesen, Anarchie und Glück,
Bernd Drücke (GWR-Red.)

(1) Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=SKxu5Ty3AfI
(2) Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=l7bWsE_fMxI