Beim Surfen im Internet bin ich Anfang 2008 zweimal kurz nacheinander der Britin Tracey Curtis über den Weg gelaufen.
Einmal auf der Liste von Anti-Kriegs-Liedern, die Bestandteil von Neil Youngs "Living With War"-Internet-Auftritt ist und heute fast 3.000 Einträge zeigt. Das andere Mal im Myspace-Freunde-Netzwerk von Chumbawamba, in dem Tracey ganz oben rangiert.
Ich hörte mir ihre Letters to Mr Bush an, und die anderen Songs, die sie bei Myspace eingestellt hat, und war sofort hingerissen. Eine klare, sanfte Stimme, die zu einer schnörkellosen akustischen Gitarre die Sache der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit verficht, in Worten, die, obwohl gute englische Poesie, auch mir als Fremdsprachler meistens zugängig bleiben.
Wenn ich mir heute eine ihrer beiden CDs anhöre, finde ich es immer wieder frappierend, dass fast jede ihrer Melodien das Zeug zu einem Ohrwurm hat. Wenn die populäre Musik ein freier, und kein kapitalistischer Markt wäre, wäre Tracey wahrscheinlich schon ziemlich berühmt. Aber ihre Texte sind nie systemkonform. Sie zeugen von Empathie mit einer Obdachlosen am Piccadilly Circus, mit Knackis, denen die Schneeflocken vor dem Gitterfenster zum Inbegriff der Freiheit werden, oder mit ausgebombten Kindern im Irak. Sie sind dezidiert kämpferisch und sarkastisch, wenn etwa die Todesstrafe als olympische Disziplin besungen wird, in der China vor dem Iran und den USA die Goldmedaille ergattert, oder wenn Mythos und Wirklichkeit des Soldaten-Daseins miteinander konfrontiert werden. Sie sind entwaffnend offen, wenn Tracey über ihre Rolle als Mutter reflektiert oder die Ambivalenz des Neid-Gefühls besingt.
Als ich Tracey im August auf einem Festival in der Nähe von Kassel live sah und hörte, spürte ich gleich, dass diese Mischung aus einem entschieden libertären Standpunkt und einer gewissen neugierigen Unsicherheit authentisch zur Person der Künstlerin gehört. Sie entschuldigte sich dort öfter als nötig für das Kämpferische ihrer Songtexte, obwohl gerade dies - und namentlich das George-W.-Bush-Bashing - bei dem heterogenen Publikum gut ankam. An jenem Abend entstand die Idee zu dem nachfolgenden Interview. Weiterlesen