Sebastian Kalicha (Hg.)

Barrieren durchbrechen!

Israel / Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus

19,80 

Wieder lieferbar!

Das Buch versammelt Beiträge von israelischen, palästinensischen und internationalen AktivistInnen, die den Nahostkonflikt von gewaltfrei-antimilitaristischen, feministischen und libertären Standpunkten aus betrachten. Die AktivistInnen skizzieren ein Bild des Konflikts von unten, bei dem die Sichtweisen und Aktivitäten der lebendigen und radikalen Graswurzelbewegungen – nicht die der weltpolitischen Eliten – die Hauptrolle spielen.

Beschreibung

Sebastian Kalicha (Hg.)
Barrieren durchbrechen!
Israel / Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus

277 Seiten
ISBN 978-3-939045-08-3

Wieder lieferbar!

Ist eine gerechte und friedliche Lösung des Nahostkonflikts realistisch oder sind die Hindernisse auf dem Weg dahin bereits unüberwindbar? In der palästinensischen Westbank baut Israel eine groß angelegte, geopolitisch motivierte Barriere (Mauer). Zwischen Israel und Gaza herrscht offener oder verdeckter Krieg. Gegen die Sperranlage hat sich in den letzten Jahren durch die Anwendung direkter gewaltfreier Aktionen eine neue Graswurzelbewegung in den Gemeinden der palästinensischen Westbank und bei israelischen Solidaritätsgruppen entwickelt. Die AktivistInnen durchbrechen im gemeinsamen Widerstand Barrieren der Abschottung und der gegenseitigen Ignoranz.

Dieses Buch versammelt Beiträge von israelischen, palästinensischen und internationalen AktivistInnen, die den Nahostkonflikt von gewaltfrei-antimilitaristischen, feministischen und libertären Standpunkten aus betrachten. Die AktivistInnen skizzieren ein Bild des Konflikts von unten, bei dem die Sichtweisen und Aktivitäten der lebendigen und radikalen Graswurzelbewegungen – nicht die der weltpolitischen Eliten – die Hauptrolle spielen.

AktivistInnen von Gruppen wie New Profile, MachsomWatch, Women in Black, Popular Committee of Budrus, Popular Committee of Bil’in, Gush Shalom, Yesh Gvul, International Women’s Peace Service, International Solidarity Movement, ActiveStills, The Other Israel, Occupation Magazine, Black Laundry und Anarchists Against the Wall kommen zu Wort und präsentieren die Auseinandersetzungen in Israel / Palästina von einer neuen, in den westlichen Medienberichten viel zu oft vernachlässigten und für viele ungewohnten Perspektive.

Inhalt

Einleitung

Teil I: Skizzen einer Bewegung

Sebastian Kalicha
Message from the Grassroots.
Der Nahostkonflikt “von unten” – ein Überblick

Adam Keller
40 Jahre – Genug!
Ein sechs Tage langer Wirbelwind des Protests

Teil II: Gewaltfreiheit und Antimilitarismus

Neta Golan
Ein Fenster der Solidarität.
Der gemeinsame Widerstand von palästinensischen, israelischen und internationalen AktivistInnen

Gila Svirsky
Die Frauen-Friedensbewegung in Israel

Jeanette Herzberg
Antimilitarismus und Feminismus in Israel.
Ein Portrait von New Profile

Roni Hammermann
“Die Friedensbewegung muss gegen die herrschende ‘Politik der Angst’ ankämpfen”.
Ein Interview mit Roni Hammermann von MachsomWatch und Occupation Magazine

Ayed Morrar
Das Dorf Budrus.
Gewaltfreier Widerstand im Westjordanland

Mohammed Khatib
“Ich hoffe, dass es meine Kinder einmal besser haben werden”.
Ein Interview mit dem gewaltfreien Aktivisten Mohammed Khatib aus Bil’in/Westbank

Basel Mansour
Eine gewaltfreie Kampagne der Mutigen.
Auszug eines Redebeitrags gehalten bei einer Demonstration gegen die Barriere in Bil’in/Westbank

Clara Fallbach
Sumoud und “Non-violent Direct Agriculture”.
Die Olivenernte als eine Form des gewaltfreien Widerstands

Teil III: Kriegsdienstverweigerung

Endy Hagen
“Ein echter Israeli desertiert nicht”.
Kriegsdienstverweigerung in Israel

Zohar Milchgrub
“Ich habe meine Meinung und bin bereit, für sie bestraft zu werden”.
Ein Interview mit dem israelischen Kriegsdienstverweigerer und Yesh Gvul-Aktivisten Zohar Milchgrub

Teil IV: Anarchismus

Uri Gordon
Anarchismus in Israel/Palästina

Kobi Snitz
Tränengas und Tee.
Probleme des prinzipiellen Widerstands innerhalb der israelischen Bewegung gegen die Mauer und das Dilemma ihrer Privilegien

Jonathan Pollak
“Es wäre hart, das Streben nach einer besseren Zukunft aufzugeben”.
Ein Interview mit dem israelischen Anarchisten Jonathan Pollak

Yossi Bartal
Dykes and the Holy War.
Der Kampf gegen Apartheid und Queer-Widerstand in Israel/Palästina

Rezensionen

Rundbrief “KDV im Krieg” (Connection e.V.)
ak – analyse & kritik
FriedensForum – Zeitschrift der Friedensbewegung
grundrisse – zeitschrift für linke theorie & debatte
Neues Deutschland

Barrieren durchbrechen! Eine Buchbesprechung

Eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist nicht in Sicht und wird von den jeweiligen Regierenden offensichtlich auch gar nicht gewollt. Dazu wird die die arg lange und grausame Geschichte von Verfolgung und Vertreibung mit Religion zu einem ideologischen Konstrukt angereichert, mit dem die Hardliner den Moderaten immer mehr den Boden entziehen – hüben wie drüben. Derweilen werden, wo immer das möglich ist, neue Fakten geschaffen. Die Täter geben sich auf allen Seiten als Opfer und halten sich so die Verbündeten bei der Stange, die ihnen ideologisch beistehen, Almosen, Finanzen und die von ihnen so sehr geliebten Waffen liefern. Ohne Hilfe und der damit verbundenen Korruption von außen wäre das Programm der Gewalt schon längst zusammengebrochen – und es müsste ernsthaft nach Lösungen gesucht werden.

Die sog. internationale Gemeinschaft könnte an diesem Punkt sicherlich viel dazu beitragen, eine für alle Seiten schwierige, aber doch akzeptable Lösung zu fördern, so die Theorie. Die westlichen Staatenlenker sind eindeutige Verbündete Israels, und Israel ist auf diese Hilfe essenziell angewiesen, und deshalb könnten sie auch Einfluss auf das Geschehen nehmen, wollen aber nicht, denn auch sie benutzen die Freund-/Feindbilder für den eigenen Machterhalt. Von Deutschland, dem wohl entschiedensten Verbündeten Israels, wie das gerade wieder Westerwelle bei seinem Besuch bewiesen hat, ist da keine Hoffnung zu erwarten. Aber leider hat auch die Weltmacht No. 1 mit ihrem neuen Besen, der mit geschickter Rhetorik und viel Charisma in Kairo die arabische Welt für sich einnehmen konnte, sich dann aber von seinem israelischen Counterpart schon in der symbolträchtigen Frage der Siedlungen an der Nase herumführen ließ, kläglich kapituliert.

In diesem tödlichen Schachspiel um Macht und Staatlichkeit verkümmert die Bevölkerung zum Bauernopfer – wenn sie es mit sich machen lässt. Es sind sicherlich nicht viele, es sind zu wenig, aber es gibt sie, die sich nicht vereinnahmen lassen, aufbegehren und durch ihren Widerstand ganz andere Perspektiven entwickeln. Und viele davon, wie die Geschichte zeigt, gerade wenn sie neue „moderate“ Parteien gründen, geraten erneut in das Machtspiel und verschwinden darin. Wer als Individuum in den herrschenden Ideologien gefangen bleibt, kehrt nach einem Ausbruchsversuch logischerweise auch wieder ins Lager zurück. Der Widerstand verkommt zu einer Episode, oft gepaart mit individueller Verzweiflung.

Es gibt diese individuellen und auch kollektiven Grenzen, es gibt Gewissen, Moral und Ethik, und notfalls auch Recht und Religion, deren Werte durchaus auch gegen die Herrschenden instrumentierbar sind. Es gibt die Freiheit, die vorgegebenen Barrieren zu durchbrechen. Aber: „Allein machen sie dich ein“, sangen in den 70er Jahren Ton Steine Scherben. In Israel hat man aus dieser Situation gelernt. Das individuelle Aufbegehren, das sich vielerorts zeigt, verfestigt sich in Gruppen, insbesondere wenn es Unterstützung von außen gibt. So wie das z.B. Connection e.V. im Falle israelischer KriegsdienstverweigerInnen macht.

Die Stärke des hier vorzustellenden Buches liegt nicht in der Analyse des Konflikts. Sie findet sich zwar auch, ist aber nicht das Thema. Dafür werden gewaltfreie und antimilitaristische Analysen und Aktivitäten und auch die gegenseitige Unterstützung – und auch die von außen – an den Brennpunkten Israels und Palästinas vorgestellt. Was das Buch zwar nicht einfacher zu lesen, aber interessanter macht, ist, dass da nicht einer von außen beschreibt, sondern viele in ganz unterschiedlicher Weise und Qualität von innen und von unten. Ein Großteil der AutorInnen dürfte den LeserInnen unserer Veröffentlichungen bereits bekannt sein.

Nach einer relativ kurzen Einleitung mit dem Nahostkonflikt „von unten“ durch Sebastian Kalicha, den Herausgeber, gibt Adam Keller einen Einblick in die vielfältigen Aktivitäten des Widerstands in Israel in „Wirbelwind von unten“.

Nach dem ersten großen Abschnitt, der der Solidarität von palästinensischen, israelischen und internationalen AktivistInnen gewidmet ist, folgt eine Übersicht über die Frauen-Friedensbewegung und antimilitaristische feministische Ansätze wo u.a. New Profile/Israel vorgestellt wird. Es geht weiter mit der Erfahrung der Beobachtung der von Israel errichteten Kontrollpunkte und dem schwierigen, z.T. sogar lebensgefährlichen gewaltfreien Widerstand gegen die Mauer, der sich in Budrus und Bil´in recht unterschiedlich entwickelt hat und bei dem manchmal sogar kleinere Erfolge zu verzeichnen waren.

Dann kommt der Bereich Kriegsdienstverweigerung, mit dem einzigen Beitrag, der nicht vor Ort entstanden ist, von Endy Hagen, die in solider Ausführlichkeit die Kriegsdienstverweigerung und ihre Organisationen in Israel darstellt und nachvollziehbar analysiert. Die äußerst heterogene Bewegung des individuellen Aufbegehrens und Nicht-Mitmachens ist mit den verschiedenen Kriegen zwar immer wieder zusammengebrochen, sie hat sich inzwischen aber in verschiedenen organisatorischen Ansätzen verfestigt. Sie reicht heute von Soldaten, die über ihre Erlebnisse beim letzten Gaza-Krieg öffentlich berichten, und so die Politik in Bedrängnis bringen, über den vorgestellten Verweigerer Zohar Milchgrub, der angesichts der Verhältnisse durchaus bereit ist für seine Ansicht ins Gefängnis zu gehen, bis hin zu der immer breiter werdenden anarchistischen Bewegung, wie AnarchistInnen gegen die Mauer oder den vielleicht vom Ansatz her sogar noch radikaleren veganen und queeren Ansätzen.

Die Beiträge sind dabei durchaus nicht alle auf einer Linie, sondern weichen in ihrer Perspektive erheblich voneinander ab. Ob das Ziel nun eine Zwei-Staaten-Lösung sein soll, wie das z.B. eine der ältesten und aktivsten Organisationen, Yesh Gvul, vertritt, oder in der radikaleren utopischen Perspektive eines gemeinsamen Staates – oder ob nicht die Suche nach einer staatlichen Lösung gar keine Perspektive darstellt, sondern die Ursache des Übels, das kommt zwar in dem Buch immer wieder mal zum Vorschein, spielt aber im solidarischen Widerstand gegen die Gewalt der Herrschenden erfreulicherweise keine entscheidende Rolle.

Ich habe beim Lesen des Buches meine Kenntnisse vertiefen und verbreitern können. Viel Neues erfahren habe ich über den gewaltfreien Widerstand und die Positionen auf palästinensischer Seite und aus den fünf Beiträgen zur anarchistischen Bewegung in Israel. Auch wenn das Buch jetzt auch schon wieder etwas älter ist, kauft und lest es und helft mit, die Barrieren, die es auch hier gibt, zu durchbrechen!

Franz Nadler

erschienen in: Rundbrief KDV im Krieg, April 2010

Solidarität mit wem?

Ein überfälliger Sammelband zu Graswurzelengagement in Israel/Palästina

Seit Beginn der Zweiten Intifada im Oktober 2000 hat sich in Israel/Palästina eine in beiden Gesellschaften politisch äußerst marginale, durch ihre Aktionen jedoch durchaus öffentlich präsente Graswurzelbewegung entwickelt, die sich gewaltfreien Widerstand auf die Fahnen geschrieben hat. Antimilitarismus, Anarchismus, Feminismus, Queer Theory und radikaler Humanismus durchdringen sich auf vielfache Weise. Höchste Zeit, sich jenseits hiesiger ideologischer Grabenkämpfe mit der israelisch-palästinensischen radikalen Linken auseinander zu setzen.

Deutsche können grausam sein, wenn es um Israelis und PalästinenserInnen geht. Nie werde ich das Treffen mit einer linken Reisegruppe in Tel Aviv vergessen: Um sich über den Nahostkonflikt zu informieren, hatte man diverse linkszionistische Friedens- und Koexistenzprojekte in Israel bereist. In die Westbank zu fahren schien zu gefährlich, von Gaza ganz zu schweigen. Also besuchte man eine palästinensischen Menschenrechtsorganisation in Ostjerusalem, um auch “die andere Seite” zu hören. Wieder unter sich echauffierte man sich darüber, dass sich die palästinensischen GesprächspartnerInnen “nicht vom Terrorismus distanziert” hätten. Ich wandte ein, es gäbe aus palästinensischer Perspektive vielleicht erstmal wichtigeres zu erzählen, wenn Gäste kämen – Besatzungsherrschaft, Siedlungsbau, alltägliche Schikanen, die Trennungsmauer usw. Und: “Da sterben dauernd Leute!” – “So what!?” entgegnete mein deutscher Gesprächspartner, der einen Israelbutton an der Jacke trug.

Ähnlich gnadenlos, wenn auch etwas wohlwollender, geht man hier zu Lande mit der nichtzionistischen israelischen Linken um. Wobei nichtzionistisch vor Ort zunächst einmal nicht viel mehr bedeutet als antinationalistisch und antirassistisch zu sein.

Unter der Überschrift “Lechts und Rinks. Und wie man das verwechseln kann, wenn es um Israel geht” (Konkret 12/2005) tadelte Stefan Grigat die israelische radikale Linke besserwisserisch als naive HumanistInnen, die dem arabischen Antisemitismus Vorschub leisteten. Allerdings, so gesteht er milde zu, könne Israel dieses Kritikpotenzial durchaus gebrauchen – schließlich wolle es ein “Licht unter den Nationen” sein.

Wer einmal länger in Israel/Palästina gelebt und sich mit den dort lebenden Menschen und deren Lebensrealitäten auseinander gesetzt hat, hat vieles zu diskutieren – mit PalästinenserInnen, vor allem aber mit israelischen Linksradikalen. Zum Beispiel über den moralischen (und taktischen!) Sinn und Unsinn von Shoah-Vergleichen, über die Realität des Antisemitismus, über Geschichte und Wesen des Zionismus usw.
Nichts als naiver Humanismus?

Wer dort einmal gelebt hat, weiß auch, was für ein langer Weg es für das israelische Subjekt ist, sich inmitten eines dauernden Kriegszustandes von der eigenen Sozialisation und Gesellschaft (die sich in Israel mehr als anderswo auch als Kollektiv imaginiert) zu emanzipieren. Es handelt sich um Menschen, die in diesen Konflikt hineinsozialisiert wurden. Die nicht selten ihren Armeedienst in den besetzten Gebieten geleistet haben, sich aber an irgend einem Punkt einer weiteren Teilnahme an dieser Realität verweigerten.

Insofern gilt es, die Positionen der radikalen Linken in Israel/Palästina ernst zu nehmen als Stimmen von ExpertInnen, die vor Ort leben und täglich mit Krieg und Unrecht konfrontiert sind. Dafür bietet der von Sebastian Kalicha herausgegebene Sammelband “Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus” eine gute Grundlage.

Kalicha hält sich jenseits von einer kritischen Solidarität mit den im Buch präsentierten Initiativen weitgehend zurück: In der Einleitung und einem eigenen Artikel erklärt er diskursive Kontexte und politische Hintergründe – vor allem den Bau der “Barriere” oder “Mauer” als Kristallisationspunkt gemeinsamen israelisch-palästinensischen Widerstandes – so differenziert wie möglich. Er gibt einen umfassenden Überblick über politische Gruppen, die im gewaltfreien Widerstand gegen Besatzung und Mauerbau aktiv sind und geht auf Geschichte, Taktiken und Probleme des gemeinsamen israelisch-palästinensischen Kampfes ein.

Das Buch ist dann in drei weitere Abschnitte aufgeteilt: Unter “Gewaltfreiheit und Antimilitarismus” schreiben PalästinenserInnen über ihre Erfahrungen mit dem gewaltfreien Kampf sowie ihre Zusammenarbeit mit israelischen AktivistInnen. Israelische Aktivistinnen skizzieren den spezifischen Zusammenhang zwischen Feminismus und Antimilitarismus in der israelischen Gesellschaft sowie die Frauen-Friedensbewegung in Israel.

Unter der Überschrift “Kriegsdienstverweigerung” werden die Geschichte der israelischen Verweigererbewegung ebenso aufgezeigt wie individuelle Konsequenzen, die Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen auf sich nehmen müssen. Im letzten Teil geht es um “Anarchismus”: Einem Hintergrundartikel folgen zwei Beiträge über die israelische Gruppe Anarchists against the Wall, die gemeinsam mit palästinensischen Dorfkomitees im Widerstand gegen die Trennungsmauer eine tragende Rolle spielt.
Israelisch-palästinensische Realitäten on the ground

Ein letzter Artikel widmet sich dem queer-Widerstand und dem Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die Besatzungsherrschaft und der Befreiung der israelischen Gesellschaft.

Neben informativen Einblicken in israelisch-palästinensische Realitäten on the ground wird in dem Buch etwas deutlich, dass es in der deutschen Linken zumindest zu respektieren gilt: Den israelischen AktivistInnen geht es nicht nur um Solidarität mit den PalästinenserInnen, mit denen sich trotz der von beiden Seiten anerkannten Asymmetrie im gemeinsamen Widerstand auch gute Freundschaften entwickelt haben. Es geht ihnen vor allem um ihre eigene menschliche Existenz und erträgliche Zukunft vor Ort. Hat man als Außenseiter des Konflikts dieses persönliche Existenzrecht einmal anerkannt, dann gibt es eine gemeinsame Basis für solidarische Diskussion und Kritik.

Cornelia Siebeck

erschienen in: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 535, 16.1.2009

Barrieren durchbrechen!

Ausgezeichnet: Die “Anarchisten gegen die Mauer” aus Israel (Anarchists Against the Wall) und das Bürgerkomitee des Dorfes Bil’in aus Palästina (Bil’n Popular Committee) wurden Anfang Dezember 2008 von der Internationalen Liga für Menschenrechte wegen ihres mutigen Einsatzes für die Menschenrechte geehrt. Beide Gruppen erhielten die Carl-von-Ossietzky-Medaille für herausragende Verdienste bei der Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte.

Diese mit Auszeichnung und Ehrung bedachten Gruppen sind mit Beiträgen in dem Buch “Barrieren durchbrechen!” dargestellt. Es macht neugierig auf das im Oktober 2008 erschienen Buch aus dem Verlag Graswurzelrevolution, ein Sammelband über den Israel-Palästina-Konflikt aus der Perspektive von unten, der Graswurzelbewegung mit ihren unterschiedlichen Aufgaben, Zielsetzungen und ihren gewaltfreien Aktionen.

Beispielhaft sind die Beiträgen in dem Buch über die “Anarchists Against the Wall” und das “Bil’n Popular Committee”. Beide Gruppe leisten gewaltfreien Widerstand gegen die von Israel errichtete Trennungsmauer auf palästinensischem Land. Sie stehen für Standhaftigkeit in vielfältigen Graswurzelaktionen von Palästinensern, Israelis und internationalen Unterstützerinnen und Unterstützern gegen die israelische Besatzung der Westbank und des Gazastreifens. Sie praktizieren eine Kultur, die eine gemeinsame Zukunft ohne Ausgrenzung und Zerstörung vorwegnimmt und demonstrieren bewusst, dass ein Zusammenleben in Freiheit und Frieden möglich ist. Sie vertreten ihre Sache auch konsequent auf der internationalen Bühne: So hat das palästinensische Dorf Bil’in zwei kanadische Immobilienunternehmen vor dem Obersten Gerichtshof von Quebec wegen Beteiligung an Bauvorhaben in der Siedlung Modi’in Illit verklagt, die zu einem großen Teil auf dem Boden Bil’ins errichtet wurde.

Beide Organisationen verdanken ihre Wirkung in der Öffentlichkeit Israels und Palästinas ihrer parteipolitisch unabhängigen, selbstbestimmten, transparenten und gewaltfreien Praxis. Ihre gemeinsamen, vom Bil’iner Bürgerkomitee seit Februar 2005 ausnahmslos an jedem Freitag organisierten Demonstrationen am Sperrzaun von Bil’in, haben zur Entstehung eines breiten internationalen Solidaritäts- und Schutznetzwerks geführt. Israelische Grenzsoldaten feuern dort regelmäßig aus nächster Nähe Tränengas-, Gummi-ummantelten Stahl- und neuerdings mit Gestankgeschosse ab. Sie schrecken selbst nicht davor zurück, Demonstranten und Demonstrantinnen – zum Teil schwere – Körperverletzungen zuzufügen.

Die Zivilcourage, mit der sie Behinderungen und Gefahren im Interesse des gemeinsamen Engagements für eine lebenswerte Zukunft überwinden, für die universelle Verwirklichung der Ideale der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorbildlich und im Zeitalter der Globalisierung über die Grenzen Israels und Palästinas hinaus bedeutsam ist.

Das gemeinsame in den Beiträgen im Buch – der rote Faden – ist die Überwindung der vorherrschenden wechselseitigen Feindseligkeiten in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft. Das kann als Sinnbild für “Barrieren durchbrechen” verstanden werden. Yossi Bartal formuliert das in seinem Beitrag “der Kampf gegen Apartheid und Queer-Widerstand” wenn er sagt:”Es gibt kein ‚hier’ und ‚dort’. Die Besatzung ist Israel inhärent.” Es komme vor allem darauf an, dass jüdische Israelis und muslimische Israelis (etc.) und Palästinenser gemeinsam leben…. Die Zwei-Staaten-Lösung (Israel / Palästina) ist “ein trauriger Witz und möglicherweise war sie es immer schon.” Sie ist eine Lösung für Apartheid: Palästina ein umschlossenes “Bantustan, umringt von einem riesigen Armeestützpunkt namens Israel.”

In diesem Kontext hat die Bewegung der männlichen und weiblichen Kriegsdienstverweigerer in Israel die besondere politische Bedeutung gegen die Militarisierung der israelischen Gesellschaft. In Israel gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung – Verweigerer/innen werden mit Gefängnisstrafen bedroht. Amnesty International und die War Resisters’ International (WRI) fordern die sofortige Freilassung von inhaftierten Kriegsdienstverweigerern in Israel.

Die Kriegsdienstverweigerung in Israel hat eine lange Tradition und ist auch mit der War Resisters` International (WRI) verbunden. Im Buch wird an Toma Schick erinnert, der in den 60er Jahren die israelische Sektion der War Resisters’ International (WRI) leitete. Heute ist die antimilitaristische und feministische Gruppe New Profile mit der WRI assoziiert. New Profile ist aktiv gegen die vorherrschende Mentalität “ein Israeli desertiert nicht” und für eine Zivil-Gesellschaft.

Die israelischen Verweigerer/innen sind – ebenso wie viele andere israelische und palästinensische Einzelpersonen und Gruppen, die sich für eine gewaltfreie und an den Menschenrechten orientierte Konfliktlösung einsetzen, – in ihren Gesellschaften eine Minderheit. Ihre Botschaft und ihre Aktivitäten, ohne die eine Friedenslösung nicht denkbar ist, verdienen besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung, weil sämtliche staatspolitischen Befriedungs-Konzepte keine wirklichen Friedenskonzepte sind. Dazu geben die Beiträge im Sammelband “Barrieren durchbrechen!” Einblicke und beleuchten den Nahostkonflikt von gewaltfrei-antimilitaristischen, feministischen und libertären Standpunkten aus.

Wolfram Beyer
Sprecher der Internationale der Kriegsdienstgegner/innen (IDK), www.idk-berlin.de

erschienen in: FriedensForum – Zeitschrift der Friedensbewegung – Nr. 6/2008 – Dezember 2008/Januar 2009, S. 21

Barrieren durchbrechen!

“Die Zusammenarbeit mit Israelis war ein heikles Thema in unserer Gemeinde, da die meisten von uns Israelis bislang nur entweder als SoldatInnen oder als SiedlerInnen begegnet sind. Gleichzeitig war uns aber klar, dass wir jede Unterstützung benötigen, die uns dabei behilflich ist, uns von der Besatzung zu befreien. (…) Wir heißen sämtliche israelische Bemühungen, uns zu helfen, herzlich willkommen, wir sind aber nicht bereit, mit AktivistInnen gemeinsam direkte Aktionen durchzuführen, die eine Normalisierung der Beziehungen herstellen wollen. Solange wir noch unter der Besatzung leben müssen, wäre das eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen dem Herrn und dem Knecht. Wir sehen unsere Belange nicht als eine Frage der Menschenrechte, es geht um Freiheit.” (Ayed Morrar, Mitglied im Volkskomitee von Budrus gegen den Bau der Annexionsbarriere in der Westbank, Seite 144/145)

“Es ist nicht immer einfach, wenn diese zwei Kulturen zusammentreffen, aber mit der Zeit können wir einander verstehen lernen. Israelis und Internationale verstehen, dass sie sich in einem palästinensischen Dorf angemessen verhalten sollen, was die ganze Sache einfacher macht. Wir wissen auch, dass viele Israelis, die zu uns kommen, in der Armee gedient haben. Es ist nicht einfach mit jemandem zusammenzuarbeiten, der Teil der Besatzung war, aber wir fingen trotzdem damit an. (…) Wir sahen, dass die Israelis einen wichtigen Teil einnahmen in unserem Engagement die Besatzung zu beenden, dass sie nicht einfach nur davon sprachen, es zu versuchen, die Besatzung zu beenden oder die negativen Effekte zu minimieren, nein, sie setzten einen konkreten Schritt gegen die Besatzung, indem sie bei den Demonstrationen mitmachten. Wir sahen, dass sie Verletzungen davon trugen wie wir, dass sie geschlagen wurden wie wir und das bestärkte uns in unserem Glauben daran, dass sie es wirklich ernst meinten mit dem, was sie taten.” (Mohammed Khatib, Mitglied im Volkskomitee von Bil’in gegen den Bau der Annexionsbarriere in der Westbank, Seite 157)

Die ProtagonistInnen der sich ausbreitenden palästinensischen Revolte gegen den Bau der Annexionsbarriere im Westjordanland und die Besatzung, die in den Jahren 2002/2003 ihren Anfang nahm, sind BewohnerInnen der Städte und Dörfer der besetzten Gebiete, die sich in Popular Commitees organisieren. Die Annexionsmauer, die Israel seit Juni 2002 in der besetzten Westbank baut, verläuft nicht auf der Waffenstillstandslinie von 1949 zwischen der Westbank und Israel, sondern reicht tief in palästinensischen Gebiete hinein (stellenweise über 20 Kilometer) und soll somit in Relation zur Grünen Linie (315km) ca. doppelt so lang (ca. 700 km) werden und zu ca. 80 % auf palästinensischem Gebiet verlaufen. Die Annexion von Land, Wasser und Siedlungen ist eine der zentralen Auswirkungen der Barriere. So ist z.B. die völlige Abschottung (Ost)Jerusalems eine der Folgen der Barriere und des gezielten Siedlungsbaus. Ferner wird durch den Verlauf der Barriere und den Siedlungsbau die Möglichkeit der völligen Abtrennung des Nordens vom Süden der Westbank durch Israel vorbereitet.

Checkpoints sind Kontrollposten des israelischen Militärs, die sich nicht nur zwischen Israel und der Westbank befinden, sondern auch in den besetzten Gebieten selbst. Sie führen dazu, dass PalästinenserInnen quasi für jeden Schritt, den sie außerhalb ihres Dorfes machen wollen, die Erlaubnis einer israelischen Behörde benötigen, wobei die dazu notwendige bürokratische Prozedur willkürlich, undurchsichtig und diskriminierend ist. Die Regeln, wer durchgelassen wird, ändern sich permanent. “Seit Beginn der Zweiten Intifada haben 36 Frauen an Checkpoints entbinden müssen, weil sie nicht durch gelassen wurden und 60 % der Babys starben kurz nach der Geburt.” (Roni Hammermann Aktivistin von MachsomWatch, Seite 128) MachsomWatch (engl.: Checkpointwatch) ist eine im Jahr 2001 gegründete israelische Frauenorganisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in Gruppen zu Checkpoints zu fahren und das Verhalten der SoldatInnen gegenüber den PalästinenserInnen zu beobachten, zu dokumentieren, öffentlich zu machen und manchmal auch gegen Menschenrechtsverletzungen einzuschreiten.

Die Behinderung der palästinensischen Landwirtschaft ist eine andere Auswirkung von Barriere- und Siedlungsbau. “Das Zerstören und Unzugänglichmachen von Olivenhainen durch den Ausbau von Siedlungen und Siedlungsstraßen, die Errichtung von Checkpoints, Straßenblockaden und Sicherheitszäunen und den Bau der Apartheidmauer stellen daher einen empfindlichen Angriff auf die wirtschaftliche Lebensgrundlage und die Selbstversorgung der ländlichen palästinensischen Bevölkerung dar. Seit Beginn der Zweiten Intifada wurden hunderttausende Olivenbäume zerstört.” (Seite 166) Liegen die Olivenhaine auf der anderen Seite der Barriere, so haben BäuerInnen theoretisch die Möglichkeit, durch Tore zu ihren Anbauflächen zu gelangen, in der Praxis werden diese Tore jedoch entweder überhaupt nicht oder zu unvorhersehbaren Zeiten geöffnet und der Durchgang durch ein restriktives und willkürliches System von Erlaubnisscheinen geregelt. Hinzu kommen noch Überfälle von radikalen SiedlerInnen auf BäuerInnen, die auf ihren landwirtschaftlichen Flächen arbeiten. Dennoch versuchen die PalästinenserInnen, die Ernte zu organisieren, auch als Teil des Widerstandes, als Form des Sumoud, das im Arabischen Widerständigkeit, Beharrlichkeit, Standhaftigkeit bedeutet und den alltäglichen Widerstand, das beharrliche Organisieren des Lebens und Überlebens beschreibt. Verschiedene internationale Organisationen und die israelische Olive Harvest Coaliton begleiten die Ernte möglichst in allen Gebieten. Da das palästinensische Olivenöl aufgrund der widrigen Produktionsbedingungen nicht konkurrenzfähig ist, wird es über Fairtrade-Vermarktung international und in Israel vertrieben. Auf http://ewh.marmara.at findet sich eine Liste von Geschäften in Österreich, in denen es erhältlich ist.

Im April 2003 wurde in Mas‘ha, einem palästinensischen Dorf in der besetzten Westbank, mit Beginn der Bauarbeiten für die Annexionsbarriere, durch die 96 % der landwirtschaftlichen Anbaufläche des Dorfes annektiert werden sollten (und mittlerweile auch wurden), ein Friedenscamp errichtet. Dieses von linken PalästinenserInnen aus Mas’ha und den umliegenden Dörfern initiierte Camp existierte vier Monate lang, bevor es von der israelischen Armee und Polizei geräumt wurde. In diesen vier Monaten entwickelte sich das Camp zu einem Zentrum des gewaltfreien basisdemokratischen Widerstands gegen die Besatzung. Palästinensische, israelische und internationale AktivistInnen lernten sich kennen, organisierten das Leben gemeinsam und planten miteinander direkte Aktionen. Hier entstand auch die israelische Gruppe Anarchists against the Wall, die sich seitdem an hunderten direkten Aktionen und Demonstrationen gegen die Mauer im Westjordanland und in Israel beteiligt hat.

Auch israelische Queer-AktivistInnen beteiligen sich am Widerstand gegen die Besatzung: “Es ist unbestritten, dass die demokratischen Rechte und Freiheiten sogar der “privilegierten Gruppen” in Israel unter der 40 Jahre andauernden Besatzung und der sozialen Realität, die sie hervorbringt, zu leiden haben. Die Notwendigkeit der “nationalen Einheit” angesichts von immer wiederkehrenden Kriegen; die schnell voranschreitende Militarisierung einer Gesellschaft, die jeden Schritt von drei Millionen PalästinenserInnen kontrollieren muss; und nicht zu vergessen der demographische Krieg, der gegen die palästinensische Geburtenrate (in Israel wird stets vom “palästinensischen Uterus als Waffe” gesprochen) geführt werden muss: Das alles fordert seinen Tribut von den Minderheiten in Israel und ist schädlich für emanzipatorische Kämpfe, z.B. der feministischen Bewegung, der LGBTQ (Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Queer) Community, der ArbeiterInnen-Organisationen, der Ökologie-Kampagnen, äthiopischen und Mizrahi (Jüdinnen und Juden arabischer Herkunft)-Gruppen und vielen anderen mehr. In einer Gesellschaft, die sich in einem konstanten Ausnahmezustand befindet, ist es schwierig, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen oder bloß davon zu sprechen.” (Yossi Bartal, Aktivist bei Kvisa Shchora, engl.: Black Laundry, queere direkte Aktionsgruppe, und bei Anarchists against the Wall, Seite 265/266)

Es bewegt sich etwas in der israelischen Gesellschaft, auch wenn betont wird, dass es sich bislang um Minderheitenpositionen gegen den militaristischen und rassistischen Konsens handelt. Seit dem Beginn der Zweiten Intifada 2001 und der ungefähr zeitgleichen Entstehung der Antiglobalisierungsbewegung haben sich auch in Israel zahlreiche neue Initiativen gegen die israelische Besatzung Palästinas gebildet.

Die Anzahl der KriegsdienstverweigerInnen – meist versteckt unter Vortäuschung von Krankheiten, manchmal aber auch offen politisch – wächst. Und anders als früher wird vermehrt auch schon der 3jährige (für Frauen 20 Monate) Wehrdienst verweigert und nicht nur selektive Verweigerung praktiziert, wie z. B. der Einsatz in den besetzten Gebieten. Längeres Durchhalten der Verweigerung (und das heißt mehrmalige mehrwöchige Arreststrafen) führt dazu, dass RekrutInnen untauglich geschrieben werden, da das israelische Militär die publik Machung von Kriegsdienstverweigerung aus politischen Gründen vermeiden will. “Tatsächlich haben 2007 nach Armeeangaben ca. 28% der männlichen und 44% der weiblichen potentiellen RekrutInnen 2007 ihren Armeedienst nicht angetreten.” (Seite 204) Aus feministischer Sicht hervorzuheben ist das Beispiel der 19-jährigen Idan Halili, die 2004 erstmals in der israelischen Geschichte mit einer explizit feministisch begründeten Verweigerung die Aufmerksamkeit der Medien gewann: “Die Armee ist hierarchisch und gewalttätig und ermutigt zu sexueller Gewalt gegenüber Schwächeren.” (Seite 197) Im Jahr 1999 entstand New Profile, eine Gruppierung, die Feminismus und Antimilitarismus verbindet. Sie unterstützt KriegsdienstverweigerInnen und ist Mitglied der im November 2000 gründeten Coalition of Women for Peace, die zehn israelische (jüdische und palästinensische) Frauenorganisationen umfasst.

Zwei (solidarische) Kritikpunkte möchte ich aber dennoch anbringen. Das Fehlen von Kartenmaterial, um die Leserin zu befähigen, sich nicht nur den Verlauf der Annexionsbarriere, sondern auch die Lage der besetzten Gebiete insgesamt bildlich vorzustellen, mag zunächst als rein formaler Kritikpunkt erscheinen. Allerdings gerät dieser Mangel in Verbindung mit der Tatsache, dass die Situation im Gazastreifen im Buch nur in Randbemerkungen erwähnt wird, zu einem inhaltlichen – und Gaza zu einem blinden Fleck im Buch. Das liegt sicherlich auch daran, dass Gaza im Unterschied zur Westbank komplett abgeriegelt und für israelische Zivilpersonen nicht betretbar ist. Seit dem Wahlsieg der Hamas 2006 leben im Gazastreifen, der nur 40 km lang und 10 km breit ist und am Mittelmeer zwischen Ägypten und Israel liegt, 1,5 Millionen Menschen unter militärischer Belagerung durch Israel und unter wirtschaftlicher Blockade. Es fehlt an Nahrungsmitteln, Medikamenten und sauberem Wasser, die Stromversorgung ist stark eingeschränkt und die hygienischen Bedingungen verschlechtern sich zusehends. Der Gazastreifen steht heute am Rande des Kollapses. Opfer ist in erster Linie die Zivilbevölkerung. Die Mehrheit der EinwohnerInnen von Gaza stammt aus Flüchtlingsfamilien aus Gebieten, die 1948 zu Israel wurden. Ein großer Teil der Menschen in Gaza lebt bis heute in Flüchtlingslagern. Der Flüchtlingszustrom in dem schmalen Streifen Land führte dazu, dass Gaza eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt hat. Zur militärischen Auseinandersetzung sagt die Gruppe Gush Shalom, die sich auch gegen militärische Gewalt gegen israelische Zivilbevölkerung von Seiten der Hamas wendet:

“(…) This is not a conflict between two equal forces. The most powerful army in the Middle East, backed by the world’s single remaining super-power, is daily using tanks, fighter planes, helicopters and gunships against the lightly-armed militias and overcrowded population of a small area whose people have lived under occupation and in poverty long before the present siege. (…) The siege of Gaza and the collective punishment of its population are totally unacceptable. It is a medieval form of war which is in utter contradiction to the present norms of human rights and international law – which Israel, as an occupying power, is bound to respect. There should be an immediate end to the siege, unconnected with any other issue, and the Gaza Strip must have free access to the outside world, for the free passage of persons and goods. (…)”

Teil der Blockade gegen den Gazastreifen ist, dass palästinensische Fischer von der israelischen Marine daran gehindert werden, ihrer Arbeit nachzugehen. Im Juni 2008 fand dagegen ein zeitgleicher Protest von palästinensischen Fischern zu Wasser in Gaza und AktivistInnen von Gush Shalom und anderen israelischen Organisationen zu Land in Herzliya (nördlich von Tel Aviv) statt.

minimol

erschienen in: grundrisse – zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 28

Das Beispiel Budrus

Barrieren durchbrechen im Nahostkonflikt

Wird der Jahrzehnte währende Nahostkonflikt durch den neuen Mann im Weißen Haus endlich einer friedlichen Lösung zugeführt? Niemand kann dies mit Bestimmtheit sagen. Die Hoffnungen sind jedenfalls groß.

Frieden wird nicht geschenkt, er muss erkämpft werden. Die Zahl der Friedensaktivisten auf palästinensischer wie israelischer Seite wächst. Und zunehmend können sie Erfolge verbuchen. Wie in Budrus: Nach 55 Demonstrationen gegen den völkerrechtswidrigen, 2004 vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag verurteilten “Zaun”, berichtet Ayed Morrar, Gründungsmitglied des Popular Committee of Budrus, “kam der israelische Kommandant, der uns zu Beginn provozieren und einschüchtern wollte, mit einer Karte, auf der wir sahen, dass die Mauer nun eine neue Route nehmen würde und wir somit 95 Prozent unseres Landes, welches ansonsten konfisziert worden wäre, gerettet haben.” Ein Beispiel für erfolgreichen gewaltfreien Widerstand im Westjordanland. Der 62-jährige studierte Historiker, der fünf Mal in israelischer Haft saß, schreibt: “Sämtliche Ideen sind bedeutungslos, wenn sie keine Beine haben, auf denen sie stehen können. Ich betrachte sie als wertlos, wenn sie im täglichen Leben nicht realisierbar sind. Bei der Idee Gewaltfreiheit, genauso wie bei jeder anderen auch, genügt es nicht, bloß von ihr zu sprechen. Man muss sie voll Überzeugung praktizieren, in der Familie, in der Gemeinde …” Wie dies auch andernorts geschieht, das bezeugt dieser Band.

Der Herausgeber beklagt fatale Verkürzungen und unzulässige Verallgemeinerung in der Vermittlung des Nahostkonflikts in den Mainstream-Medien. Dort werde nur der Diskurs der politischen Eliten behandelt, wichtige Akteure vor Ort jedoch bleiben ungenannt und unbekannt. Dieser Band will informieren über die verschiedenen Friedens-, Anti-Okkupations-, Anti-Mauer-, Menschenrechts- und Kriegsdienstverweigerungsgruppen in Israel und Palästina. Er will dazu beitragen, die vielen verschiedenen “Grautöne” des Konflikts sichtbar zu machen, “fernab von nicht existenten monolithischen Blöcken und gefährlichen Feindbildkons-truktionen”.

Der Band beginnt mit dem Aufsatz “Message from the Grassroots” – ein Überblick des Konflikts aus der Sicht “von unten”. Sebastian Kalicha schildert diverse Formen des gemeinsamen Widerstandes von Palästinensern, Israelis und internationalen Aktivisten gegen Barrierebau und Besatzung im Westjordanland: Friedenscamps, RoadblockRemovales, Sit-ins, Ankettungsaktionen, Checkpointwatch etc. Neta Golan berichtet über eine Mahnwache nach Ausbruch der zweiten Intifada, Gila Svirsky über die israelische Frauen-Friedensbewegung, Jeanette Herezberg stellt eine ehrenamtliche Graswurzel-Organisation wider den Militarismus in der israelischen Gesellschaft vor, Uri Gordon stellt die “Anarchists Against Fences” vor. Etwa 300 bekennende Anarchisten gibt es in Israel, nicht viel, bedenkt man, wie stark anarchistisches Gedankengut in der Kibbuz-Bewegung war.

Ein wichtiges Buch, bereichert durch Interviews mit Aktivisten und zugleich von praktischen Nutzen durch Verweis auf Websites palästinensischer und israelischer Organisationen.

Nora Klein

erschienen in: Neues Deutschland, Bücher zum Verschenken (Beilage), 29.11.2008