Beschreibung
Cécile Lecomte
„Kommen Sie da runter!“
Kurzgeschichten und Texte aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin
189 Seiten, 25 Abbildungen
16,90 Euro
ISBN 978-3-939045-23-6
„Kommen Sie da runter!“ – das ist der Satz, den Cécile Lecomte, auch als das „Eichhörnchen“ bekannt, bei ihren Aktionen von der Polizei am häufigsten hört. Er zeigt die Verwirrung und Ohnmacht der „Ordnungshüter“, wenn sie ihnen auf der Nase herumtanzt. Sie hat in unzähligen Kletteraktionen über den Gleisen der Atomtransporte, bei ökologischen und antimilitaristischen Kampagnen zusammen mit anderen eine dritte Dimension in das Repertoire der gewaltfreien Aktionsformen eingeführt: die Vertikale. Ihre Aktionen sind nicht nur spektakulär, sondern auch wirkungsvoll: lange Bau- oder Transportbehinderungen sind oft die Folge.
Der Staat und seine Repressionsorgane haben sie ins Visier genommen und an ihr ganz neue und willkürliche Formen der Freiheitsbeschränkung vorexerziert: die Ausweitung der präventiven Ingewahrsamnahme, überstürzte, den Tod der Aktivistin in Kauf nehmende Räumungsaktionen von kletterunkundigen PolizistInnen, frei erfundene Anklagen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, absurde Gerichtsverfahren, Überwachung, Knast.
Doch Cécile Lecomte konnten sie nicht brechen: Sie kletterte in Gerichtssälen die Wände hoch und an den Fassaden von Justizgebäuden und Knastinnenhöfen empor! Sie hat in all den Jahren als Aktivistin viel erlebt. Davon erzählen die Kurzgeschichten (inklusive Tipps für Gerichtsverfahren), die mit zahlreichen Fotos illustriert sind. Die Texte sind mal fröhlich und mal ernst geschrieben und zeigen, dass Widerstand eine Frage unbegrenzter Phantasie sein kann.
Die beiliegende 30-minütige DVD zeigt das „Eichhörnchen“ in Aktion und im Gespräch.
Vorwort
In einer Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller ist, leben wir nicht. Vielmehr wird unser Dasein nach wie vorbestimmt vom politischen Charakter der öffentlichen Gewalt. Bestandteil davon ist der Atomstaat. Sein vermummtes Gesicht konnte schon in den frühen Sechziger- und Siebzigerjahren enttarnt werden. Viele Anti-AKW-Gruppen bildeten die Anti-Atom-Bewegung. Sie gerierten sich basisdemokratisch und außerparlamentarisch. Durchaus machtvolle Demonstrationen – z. B. gegen den schnellen Brüter in Kalkar – und die alltägliche Kleinarbeit vieler Menschen begründeten ein politisches Gegengewicht. Die öffentliche Gewalt zeigte sich jedoch auf Dauer überlegen. Es gelang ihr, die Bewegung durch Parlamentarisierung zu korrumpieren und zu zerschlagen. Es war die öffentliche Gewalt, handelnd im Auftrag der Atomkonzerne, die die Schaffung von Fakten ermöglichte. Erwähnt seien nur Abertausende Tonnen von hoch giftigem Atommüll. Sie bedrohen die menschliche Zukunft über einen nicht absehbaren Zeitraum hinweg durch Verklappung und Entsorgung in den Meeren, durch Lagerung, Transport sowie die weitere Produktion radioaktiven Materials.
Nur wenige Menschen zeigen heute noch dem Atomstaat europäischer Prägung die Zähne. Zu diesen mutigen Menschen gehört die Autorin dieses Buches. Eine bewundernswerte Frau, die dem Atomstaat auf der Nase herumtanzt, damit er immer wieder sein dem Recht feindlich gesinntes Gepräge zeigt. Sie erregt Aufmerksamkeit mit spektakulären Aktionen. Die Machenschaften der Atomwirtschaft gelangen so häufig in den Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit. Wird jedoch das lichtscheue Gesindel gestört, bedient es sich der öffentlichen Gewalt, um für vermeintliche „Sicherheit und Ordnung“ zu sorgen. Was den Staat gefährdet, gibt die öffentliche Gewalt vor. Den aktiven Protest gegen die Machenschaften der Atomkonzerne und ihre Handlanger durch das Klettern auf Bäume und andere besteigbare Objekte nutzt die öffentliche Gewalt zur Außerkraftsetzung von Grund- und Menschenrechten. Nicht zuletzt die unverhältnismäßigen, gewaltsamen Reaktionen des Atomstaats auf Demonstrationen durch Klettern offenbaren die unter anderem von der Atomwirtschaft ausgehenden Gefahren für die in Arme und Reiche geteilten Gesellschaften in Europa.
Der mutige Protest einer schwerbehinderten Aktivistin hat Vorbildcharakter. Es geht um den Einsatz für Werte, die mit der öffentlichen Gewalt nichts gemein haben. Was das „Eichhörnchen“ immer wieder in Kauf nehmen und erleiden muss, kann in diesem kurzweiligen Buch mit sehr ernstem Hintergrund nachgelesen werden.
Gießen, 25.04.2013
Tronje Döhmer, Rechtsanwalt
Einleitung
„Kommen Sie da runter!“ Wie oft habe ich diesen Satz von verzweifelten PolizistInnen gehört, die mit einer für sie ungewöhnlichen Situation nicht umzugehen wissen! Unzählige Male. Dieser Satz drückt die Ohnmacht des Staates gegenüber einer spektakulären und effektiven Protestform, dem Aktionsklettern, aus. Ich bin davon überzeugt, dass Vielfalt und Kreativität Schlüssel zum Erfolg von politischen Bewegungen sind. In diesem Buch erzähle ich in Form von – autobiografischen – Kurzgeschichten und Erzählungen von meinen Erfahrungen aus den letzten zehn Jahren umwelt- und sozialpolitischen Engagements. Den Fokus habe ich bewusst auf die Begegnungen mit der Staatsmacht (Behörden wie Polizei und Justiz) gerichtet, denn diese sind bei politischen Aktionen im Bereich des zivilen Ungehorsams unvermeidbar. Die Charaktere sind zum Teil fiktiv und die Ereignisse werden nicht immer eins zu eins so wiedergegeben, wie sie sich in der Wirklichkeit ereigneten. Mal schreibe ich aus der Ich-Perspektive, mal aus der Erzählerperspektive in der dritten Person. Eine gewisse erzählerische Freiheit habe ich mir genommen.
Doch der Kern der Botschaft, der Kern der Ereignisse gehört zum realen Leben: Wie fühlt es sich oben in einer Baumkrone über der Castorstrecke an? Warum soll ein Sachverständiger für Erdanziehungskräfte vor Gericht aussagen? Wie begegne ich der Gewalt der Polizei? Wie gehe ich mit dem Tod eines Mitkämpfers um? Warum ist Baumklettern so staatsgefährdend? Gibt es ein Gesetz à la „Du sollst dich ausschließlich horizontal bewegen“? Warum interessiert sich der Verfassungssch(m)utz mehr für’s Baumklettern als für mordende Neonazis? Wie fühlt sich eine Überwachung „mit besonderen technischen Mitteln“ an? Und im Gefängnis? Warum sitze ich wegen fünf Euro oder etwas mehr dort „freiwillig“ ein? Was ist vom Spruch „Im Namen des Volkes“ zu halten?
Dieses Buch soll vermitteln, was politisch aktivistisches Leben bedeutet. Es ist zugleich ein Appell, sich politisch zu engagieren. „Ich habe jedenfalls oft vor Lachen am Boden gelegen und an anderen Stellen musste ich echt schlucken“, schrieb mir eine Freundin nach dem Korrekturlesen eines Kapitels dieses Buches. Diese Aussage trifft sehr gut auf die von mir gewählte Form von politischem Engagement zu.
Ich bin Vollzeitaktivistin, meinen Unterhalt bestreite ich über Spenden von UnterstützerInnen, die meine Arbeit unterstützungswert finden. Der Aktivismus, wie ich ihn lebe, ist keine Beschäftigung im Sinne der Lohngesellschaft. Ich arbeite nicht auf Auftrag – „rent“ einen Demonstranten ist nichts für mich -, ich entscheide frei darüber, wie ich meine Zeit und Energie für eine bessere Welt einsetze. Die Frage nach meiner Berufsbezeichnung beantworte ich mit „Journalistin und Aktionskletterkünstlerin“. Ich halte Vorträge, schreibe Artikel, blogge, dolmetsche und übersetze Texte. Die internationale Vernetzung sozialer Bewegungen liegt mir besonders am Herzen. Mein Spitzname lautet Eichhörnchen, wegen der vielen Kletteraktionen, die ich durchführe. Ich habe als Jugendliche an Wettkämpfen teilgenommen und wurde einmal französische Meisterin im Sportklettern. Immer gegen andere Menschen zu klettern hatte aber etwas Frustrierendes. Ich verbinde heute meine Leidenschaft mit meiner politischen Überzeugung und es hat wirklich etwas Schönes. Nicht JedeR muss klettern wollen und können. Ich plädiere dafür, dass die Menschen ihre unterschiedlichen Fähigkeiten für eine bessere Welt einsetzen. Aktivismus kann viel Spaß machen und effektiv sein, wenn es bunt und vielfältig wird! Viele Kurzgeschichten geben diesen „Ätsch-Faktor“ wieder und ich hoffe, sie bringen viele LeserInnen zum Schmunzeln. Es sind immer wieder Erfahrungen und Gefühle, die mir Energie für weitere Aktionen und Veranstaltungen geben.
Es gibt aber auch eine Schattenseite. Mein Engagement ist ernst gemeint. Es geht mir nicht darum, dass alle Menschen die gleiche Meinung wie ich haben, das fände ich langweilig und ich kann mir auch nicht sicher sein, dass ich Recht habe. Ich habe aber Ideen, die Welt in eine bessere zu verändern und setze mich dafür ein. Ich will aufrütteln, provozieren, die Menschen zum Nachdenken und Handeln animieren. Sand im Getriebe der Umweltzerstörungen und der Mächtigen dieser Welt zu sein, ist politisches Engagement von unten. Das nimmt mir die Gegenseite übel. Die Folgen sind Überwachung, willkürliche präventive Festnahmen ohne Verurteilung, Misshandlungen, Gewalterfahrungen oder auch unzählige Gerichtsprozesse. Auch mit dem Tod von Sébastien, einem Mitkämpfer, musste ich mich auseinandersetzen. Ein Kapitel ist ihm gewidmet.
Das sind alles Erfahrungen, die ihre physischen und psychischen Spuren hinterlassen. Das ist eine unsichtbare und meist unbewusste Wirkung von Repression. Eine blutige Wunde wird beachtet, warum ist es bei einer unsichtbaren emotionalen Wunde nicht der Fall? Viele Menschen, die Traumata erlebt haben, schämen sich. Weil das Thema Tabu ist, weil zu wenig darüber geredet wird, habe ich mich bewusst dafür entschieden, es in diesem Buch nicht außer Acht zu lassen. Es gehört zu mir – genauso wie meine körperliche „Behinderung“ im Sinne der Horizontal-Gesellschaft. Ich leide an schwerer chronischer Gelenkentzündung (Polyarthritis) und habe täglich mit Schmerzen und Nebenwirkungen diverser Therapien zu kämpfen. Ich bin keine Super-Heldin, wiederholte willkürliche Gewalterfahrungen – seien sie physischer oder psychischer Art – gehen nicht einfach so an mir vorbei. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass meine Reaktion eine gesunde Reaktion auf ein krankes System ist. Das hilft mir zwar nicht, in der Gegenwart mit den belastenden Gefühlen umzugehen. Um so entschlossener bin ich aber, das Problem an seiner Ursache – dem kranken System – anzugehen. Dieses Buch bearbeitet die Geschehnisse und zeigt Missstände auf. Das ist eine Warnung und eine Ermutigung zu kämpfen zugleich. Ob Behinderung oder Traumata: Es gibt keinen Grund aufzugeben. Im Gegenteil! Es gibt viele Möglichkeiten, damit umzugehen. Spaß am Leben habe ich trotzdem. Ich hoffe, dass es mir mit den Erzählungen gelungen ist, dies zu vermitteln. „Aus Wut wird Energie!“, schrieb ich damals nach dem Tod von Sébastien.
„Tu crois que tu vas changer le monde? Chiche!“ – „Und du glaubst, dass du die Welt verändern wirst? Ja! Die Wette läuft!“ Dem Motto von „Chiche!“, meiner ersten politischen Gruppe in Frankreich, bleibe ich treu. Ich habe Utopien für eine bessere Welt und vieles davon kann ich erreichen! Doch … gemeinsam sind wir stärker. Seid kreativ und unbequem. Oder „Empört euch!“, wie Stéphane Hessel es wunderbar zusammenfasste.