Ekkehart Krippendorff

Lebensfäden

Zehn autobiographische Versuche

9,90 

Statt 24,90 Euro nur noch 9,90 Euro

Ekkehart Krippendorff (1934–2018), Mitbegründer der deutschen Friedensforschung und Autor des für die Friedensbewegung der Achtzigerjahre wichtigen Buches „Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft“, hat sein Leben exemplarisch entflochten. Zeitgeschichtlich bedeutsame Fäden hat er thematisch herausgezogen und erzählt kulturgeschichtlich von den Lebensfäden Krieg, Theater, Universitäten, Nazismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik und Religion.

Beschreibung

Ekkehart Krippendorff
Lebensfäden
Zehn autobiographische Versuche

476 Seiten, statt 24,90 Euro nur noch 9,90 Euro
ISBN 978-3-939045-19-9

Ekkehart Krippendorff, 1934 geboren, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, darf von sich behaupten, der erste ausschließlich politikwissenschaftliche Student und Promovend in Deutschland zu sein. Er hat als kleiner Junge noch die letzten Kriegsjahre miterlebt, war 1960 bis 1963 als Fulbright-Stipendiat Augenzeuge der Aufbruchsjahre in den USA und wurde Mitbegründer der deutschen Friedensforschung. Mit seinem Rauswurf aus der FU 1965 begann die deutsche Studentenbewegung, zu deren Sprechern er 1968 gehörte. In den Siebzigerjahren lehrte er in Italien und erlebte dort das “rote Bologna”. Wissenschaftlich beeinflusste er über die Universität hinaus soziale Protestbewegungen mit seiner historisch-systematischen staatskritischen Monographie Staat und Krieg, die den programmatischen Untertitel trägt: Die historische Logik politischer Unvernunft; es folgten zahlreiche Publikationen zur Kritik des Militärs und der Außenpolitik. Später entdeckte er die Literatur für eine herrschaftskritische Politikwissenschaft – zwei Monographien über Shakespeare – und seit Jahren schreibt er Theaterkritiken. Krippendorff hat bei Goethe einen Hinweis gefunden, der ihn dazu ermutigte, sein Leben exemplarisch zu entflechten, Fäden thematisch herauszuziehen und als Erzählungen mitzuteilen – für diesen eine Geste größter Höflichkeit. “Das Gewebe unseres Lebens und Wirkens bildet sich aus gar verschiedenen Fäden, indem sich Notwendiges und Zufälliges, Willkürliches und Rein-Gewolltes, jedes von der verschiedensten Art und oft nicht zu unterscheiden, durcheinanderschränkt.” (Dichtung und Wahrheit). Was Ekkehart Krippendorff selbst bei seinem Rückgang in die eigene Geschichte entdeckte oder erinnerte, schien ihm nicht zuletzt auch zeitgeschichtlich mitteilenswert. Es sind daraus zehn in sich geschlossene und zugleich “durcheinandergeschränkte” Autobiographien, eben “Lebensfäden”, geworden: Krieg, Theater, Universitäten, Nazismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion – und ein historischer Epilog, der die bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgbare Familiengeschichte als Mikro-Spiegel deutscher Geschichte lesbar macht.

Rezensionen

graswurzelrevolution
Neues Deutschland
SWR 2
Süddeutsche Zeitung
Freitag


Den Knoten achten!

„Allerdings hat das Tuch, das aus diesen Fäden gewebt wurde, eine dominierende Farbe: Es ist ein rotes, und das heißt ein politisches Tuch.“ (13)

„Greift nur hinein ins volle Menschenleben, wo ihr’s anpackt, da ist’s interessant.“

Dieses Goethewort gilt für jedes Menschenleben. Auch und gerade, wenn es nie zu sich gekommen ist, weil Zeit und Gesellschaft die in jedem Leben gegebene Chance, sich zu entwickeln, zu lernen, Eigenes vorzustellen, verstellt und zunichte gemacht haben. Goethes von ihm in schier unfassbarer Fülle gelebtes Wort gilt für die autobiographischen Aufzeichnungen des Goethe-Enthusiasten Ekkehart Krippendorff (EK) in eigentümlichem Maße. Und das macht sie eigentümlich spannend, leselustig und mit zehn Mal sich erneuerndem Lesegewinn.

Von den zehn Lebensfäden, erkenntlich nicht in einem Schreibzug ausgelegt und gewiss mit Bedacht nicht zusammengezwirbelt, gar als fertiges Tuch endlich präsentiert, beginnt jeder für sich, verläuft nicht an festem zeitlichen oder thematischen Geländer entlang und strebt nicht krippendorffteleologisch zu einem vorhersehbaren Ziel. Mich, seit Ende der sechziger Jahre mit EK befreundet, von seinem Vorhaben nicht informiert, hat die anscheinend nicht verhakte Kette in jedem für sich geltenden Glied, in jedem Anfang, Verlauf und Ende überrascht und immer erneut hingezogen. […]

Weiterlesen…

Wolf-Dieter Narr
erschienen in: graswurzelrevolution 370, Sommer 2012

Götter und Goethe

Ekkehart Krippendorff spricht es mit entwaffnender Offenheit aus: »Niemanden ist seine postmortale Existenz wirklich gleichgültig.« Jeder der weiß, dass er nicht mehr viele Jahre vor sich hat, möchte sich selbst den Nachgeborenen erklären – und die Zeit, in der sich alles Glück und Unglück abgespielt hat, »nicht im Sinne prätendierter Wichtigtuerei, sondern im Sinne menschenrechtlich begründeter Würde«. Das ist dem Autor gelungen!

Krippendorff blieb vielen ein Außenseiter, für die Politischen ist er der 68er, für die Rechten der Linke, für die Konservativen der Antiamerikanist und so fort. Ihm war es keineswegs in die Wiege gelegt, ein Linker zu werden. Mit großer Offenheit geht er sich selbst als Pimpf nach, den merkwürdigen Verwerfungen nach dem Mai 1945. Die Auseinandersetzung mit dem Osten betreibt er als jemand, der den Osten verlassen hatte und nun als Wandervogel zu den FDJTreffen in der DDR kommt und sich ernsthaft mit dem Marxismus auseinandersetzt. In diesem Buch kann man konkret nachbuchstabieren, was Wettkampf der Systeme hieß und wie jüngere Menschen im kommunistischen System Ziel und Sinn für ihr Leben gefunden hatten.

Bevor Krippendorff eine der Symbolfiguren der Studentenbewegung wurde, hatte er in Freiburg studiert und einen fünfmaligen Rauswurf erlebt. Aber dann doch alles gut durchstanden. Er war insbesondere durch das Theater und dessen »fünf Götter« in seinem Denken geprägt worden: Shakespeare, Molière, Büchner, Brecht, Tschechow. Aber immer und immer wieder Goethe. Er war lebenslang ein Grenzgänger und blieb nie Spezialist im Sinne eines eingegrenzten und eingeengten Fachbereichs. Er gehörte nach 1989 zu denen, die die »Ossis« gut verstanden, weil er ihnen nicht als »Wessi« begegnete. Italien gehört zu ihm wie die Vereinigten Staaten, Musik (Mozart!) gehört zu ihm wie eine universalistische Religiosität ohne konfessionelle Bindung.

Krippendorf gehört nicht zu jenen, die nach 1989 die antikommunistische Kehrtwendung vollzogen, er bleibt aber seiner Kritik an jener stalinistisch-bolschewistischen Verachtung des wahren Sozialismus nichts schuldig. Und er gesteht sich ein, dass die politisch intellektuelle Linke in der Bundesrepublik die DDR zu deren Lebzeiten viel zu schonend behandelt hat, und dass sich diese Linke nicht wirklich für das Leben in der DDR, zumal der dissidentischen Kreise, interessierte. Die Selbstzerstörung des sozialistischen Experiments durch das SED-System beklagt er – wie er gleichzeitig zu würdigen weiß, was mitten in dieser ummauerten Provinz DDR kulturell an Anspruchsvollem geschah.

Ja, es gibt sie, die wohltuend undogmatische, an Realität geschulte und von Utopie beflügelte Linke. Sie hat auch diesen Namen: Ekkehart Krippendorff. Ein deutscher Professor, der seinen Wurzeln im Halberstädtischen, im Nachkriegsdeutschland lebenslang nachspürt, und der es wagt, Brechts »Lob des Kommunismus« auf die Titelseite des Wandervogel- Heftes vom Oktober 1954 zu bringen und erklärend anzufügen: »Wer heute noch glaubt, das Phänomen Kommunismus sei mit einem ausreichend schlagkräftigen Heer und Atombomben überwindbar, hat nicht begriffen, worum es überhaupt geht. Unser gesamter geistiger Bestand, unsere Ideale, Ziele, Lebensformen stehen mit auf dem Spiel und erweisen sich im Scheidewasser dieser neuen Weltanschauung als äußerst brüchig.«

Krippendorffs Geist lehrt: Der Westen würde es sich zu leicht machen, wenn er den Kommunismus einfach nur mit der DDR identifizierte und nicht sähe, dass Kommunismus mehr ist als ein reiner Machtgedanke und eine verlockend geschlossene Weltanschauung. »Mit einer bloßen Gegnerschaft zum Kommunismus ist es heute nicht mehr getan – bloße Gegnerschaft ist blind, führt zu nichts.«

Es sei ein geistiger Kampf nötig, das schreibt schon der Zwanzigjährige nach seinen Besuchen der FDJ-Pfingsttreffen, zu einer Zeit, da noch nicht entschieden war, wer den Kampf der Systeme gewinnen würde. Krippendorff war, zusammen mit seinem Vater, durchaus von Aufbaupathos erfüllt, er wollte große deutsche Kultur in die Schwanebecker Dorfwirklichkeit bringen – und floh aus bedrohlicher Ahnung der Dogmen kurz vor der Gründung der DDR.

Prägende Zeit hat er im Roten Bologna erlebt, wo ihm die USamerikanische Hopkins University eine Lehr- und Forschungsstelle verschafft hatte. Seinen späteren Lehrstuhl für Politikwissenschaften an der Freien Universität Westberlin konnte er nie ohne Bezug zur großen deutsche Literatur denken. Er hat fächerübergreifend gedacht und die Schizophrenien des Westens wie des Ostens offengelegt. Er hat die westlichen und östlichen Versuche kritisiert, sich dem Schrecken des Nazismus so oder so zu entziehen: der Westen mit Wiederaufbaupathos, der Osten mit Neuaufbaupathos. Bei dem Theologen Gollwitzer war er in die Lebensschule gegangen, hatte die Frühschriften von Marx gelesen und den gesellschaftskritischen Stachel darin erkannt.

Er geht der für ihn zunächst schwer erklärbaren Tatsache nach, warum auch seine beiden Eltern in der NSDAP gewesen waren, und sagt von sich: »Ich war ein gut einund angepasstes Kind des Dritten Reiches und hatte von zuhause keinerlei Ressourcen mitbekommen, die es mir ermöglicht hätten, eine kritische oder auch distanzierte Haltung zur militarisierten und nazifizierten Gesellschaft zu entwickeln.«

Der Wissenschaftler und Kunstkenner reflektiert sein Leben an unterschiedlichen nebeneinanderliegenden, auch ineinander verwobenen Lebensfäden. Eines seiner Bekenntnisbücher heißt nicht von ungefähr: »Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart.« Das ist der geistige Horizont, in dem Ekkehart Krippendorff sich bewegt und auf den er sich, in einer bewundernswerten Inständigkeit und Eigenständigkeit, bezieht.

Auch wenn bei ihm zuhause Religion kein Thema war, auch wenn er 1960 in ausdrücklich begründeter Weise aus der Kirche austrat, weil das Christentum zu einer konservativen Ideologie verfälscht worden sei und die christliche Gemeinschaft wesentlich »auf einem Bekenntnis beruht, welches abzulegen ich nicht vermag « – dennoch bleibt ihm ein existenzielles Unbehagen, eine transzendente Sehnsucht; es bleibt »das Bedürfnis nach Artikulation, nach Aussprechbarkeit, nach Worten und Begriffen für die geistige Dimension unserer Existenz und Erfahrungen«.

Deshalb stellt er sich selber immer wieder neu die Gretchenfrage. Er versteht (mit Albert Schweitzer) Religion als Einstellung zur Welt, im Respekt vor den Wundern der Natur. Bei einem Besuch in Indien lernt er im Ansehen einer Kuh zu verstehen, was sein Lehrer Theodor W. Adorno gemeint hatte: »Auschwitz fängt an, wo einer im Schlachthof steht und denkt, es sind ja nur Tiere.« Der kalten Verdinglichung alles Lebendigen entgegenzutreten, ist ein durchgängiger Lebensimpuls Krippendorffs. Dazu gehört, die Dinge auch in Ruhe lassen zu können, Wahrheit auch in der Gelassenheit zu finden, nicht nur immer im eifrigen, eifernden Enthüllen. Goethe als Maßstab und Anleitung: im Poltischen die spirituelle, dann wieder die kosmopolitische Dimension. Ein Linker – mit religiöser Welthaltung, das heißt: Ethisierung, Moralisierung nicht nur der politischen, sondern unserer gesamten ökonomischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt wissenschaftlichen Problemlösungen. Das Große und Ganze der Schöpfung im Blick haben, als großes Wunder, dem wir in Demut und daraus kommender aktiver Bewahrung verpflichtet sind.

Krippendorffs Lebensfäden weisen auf Vergangenes, aber ihr eigentlicher Impetus ist die mögliche Zukunft, das Entdecken verbliebener Möglichkeiten. Nachdem Irr-Wege offengelegt worden seien (so sagt er, so lebt er), könne man doch nicht aufhören, Wege zu suchen.

Ekkehart Krippendorff hat unter den Stichworten Krieg, Theater, Universitäten, Nationalismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion seine Lebensfäden verwoben, sich aber nicht darin verstrickt. Er erzählt und reflektiert das Erinnerte auf mögliche Zukunft hin. Er vermag, ehrlich zu sein, ohne sich selber zu beschädigen. Er vermag zu erklären, ohne sich zu rechtfertigen. er rezählt so begeistert wie geerdet. Ein unruhiger, neugieriger Geist. In der Tiefe erschüttert vom Holocaust, legt er in Dachau noch 1978 einen ganz persönlichen Schwur ab, immer rechtzeitig aufzustehen, wo braune Gesinnung in neuen Verkleidungen auftritt.

Und überall scheint durch, welch ein Glücksfall für ihn seine Frau Eve wurde, eine tschechischamerikanische Jüdin. Ekkehart Krippendorffs Lebensgeschichte macht Geschichte lebendig. Unsere Geschichte.

Friedrich Schorlemmer
erschienen in: Neues Deutschland, 10. Oktober 2012

SWR 2 Die Buchkritik

Rezension von Ulrich Teusch. (Radiostream)

gesendet von: SWR 2 Literatur, 17.10.2012

Installateur des Protests

Autobiografien von Akademikern sind meist von erschütternder Belanglosigkeit. Dem kritischen Politologen und Pazifisten Ekkehart Krippendorff aber gelingt mit seinen “Lebensfäden” ein fast klassisch zu nennender Bildungsroman der Nachkriegszeit

Nach Monaten erst wagt es der cand. phil., den Doktorvater nach seinem Eindruck von der Arbeit zu fragen, ganz vorsichtig nur, wie sich’s gehört, aber er muss doch endlich wissen, was aus ihm werden soll. Der Herr Professor murmelt Unverständliches und lässt den Supplikanten wie einen dummen Schüler stehen. Am nächsten Tag trifft ein warmherziger Brief ein: “Sehr geehrter Herr Krippendorff, Sie können sich Ihre Arbeit im Sekretariat abholen. Professoren sind nicht dazu da, die Arbeiten ihrer Studenten zu lesen. Mit freundlichen Grüßen Theodor Eschenburg”.

Der grandseigneurale Großvater des politischen Denkens in der Bundesrepublik war also auch nur einer jener hoheitsvollen Ordinarien, die mit akademischen Quisquilien, gar dem Fortkommen ihrer Studenten, nicht behelligt werden durften. Der Student Krippendorff darf dann aber doch in Ehren promoviert werden, und der konservative Staatsrechtler Eschenburg wird sich für seinen linken Schüler (auf den er allerdings auch stolz war) einsetzen, als dessen Berufung aus politischen Gründen verhindert werden soll.

Mit 78 Jahren hat der inzwischen emeritierte Politikwissenschaftler, radikale Pazifist und leidenschaftliche Theaterkritiker (auch für die Süddeutsche Zeitung) Ekkehart Krippendorff seine Erinnerungen niedergelegt. Die “Lebensfäden”, in denen er aus seinem Leben berichtet, begründet Krippendorff nicht weiter überraschend mit einem Satz von Goethe über Zufälliges und Gewolltes in der eigenen Lebensführung. Auf eine besonders günstige Konjunktion zur Geburtsstunde oder die mütterliche Frohnatur verzichtet er immerhin, verrät aber beiläufig, dass in der Familie heute vor wichtigen Entscheidungen das I Ging konsultiert wird.

Autobiografien von Akademikern sind, seit die Verfasser nicht mehr zur pietistischen Selbstbefragung gezwungen sind, meist von erschütternder Belanglosigkeit. “Ich erzähle mein Leben”, die Erinnerungen des Germanistik-Großordinarius Benno von Wiese etwa, sind bodenlos banal und aufregend nur, wenn sich der eifrige NS-Mitläufer seiner kurzen Liebschaft mit Hannah Arendt rühmen kann: “Triebhaft war sie nicht, wohl aber schwärmerisch”, durfte Wiese noch 1982 im Insel-Verlag formulieren. “So groß und so reich dieses weibliche Gefühlssensorium auch war, die völlige Hingabe an das männliche Du konnte ihr trotzdem nicht gelingen, weil sie, gegen ihren Willen, stets dominieren mußte.”

In Krippendorffs Buch fehlt es nicht an Meinungen, auch wird das eigene Licht keineswegs unter den Scheffel gestellt, doch wird hier nicht nur ein Leben, sondern ein fast klassisch zu nennender Bildungsroman erzählt, weil der Autor sich beiläufig als ebenso ungewöhnlicher wie entscheidender Akteur der Nachkriegsgeschichte darstellen kann. Krippendorff beschönigt nichts, spricht also offen von seiner kindlichen Begeisterung für die Marine, von seinem ungläubigen Staunen darüber, dass Hitlers Armee einmal nicht mehr siegreich sein könnte und bezeichnet sich als “gut ein- und angepasstes Kind des Dritten Reichs”: sein Vater war in Halberstadt kriegs- und rüstungswichtiger Unternehmer; seinen Vornamen verdankt er zeitgerecht der Stifterfigur des Ekkehart im Naumburger Dom; Alexander Kluges Vater war sein Kinderarzt.

Zum Theater will der Schüler schon, sieht in Düsseldorf Gründgens, bewirbt sich bei Heinz Hilpert, und auch wenn es nichts wird, stellt er sich als “lebenden Beweis” dafür vor, dass das Theater Menschen verändern kann. Noch heute schaut er sich beim Aufenthalt in fremden Städten zuerst den Theaterzettel an, damit ihm auch keine neue und womöglich aufregende Inszenierung entgehe. Er studiert dann in Tübingen, Berlin und Freiburg, wo Arnold Bergstraesser den fleißig Seminar um Seminar belegenden Studenten für die noch fast unbekannte Politische Wissenschaft interessiert. Wie vielen seiner Generation geht auch Krippendorff erst in den USA eine neue Welt auf. Dort gibt es, anders als in der Bundesrepublik eine theoretische Auseinandersetzung mit Politik, dort gibt es auch die praktische Politik der gemeindlichen Mitbestimmung.

Der Autor vergisst auch nicht einen wesentlichen kulturellen Vorsprung zu erwähnen, dessen er in Amerika zum ersten Mal inne wird: Es gibt dort Duschen, und anders als in Deutschland kann man sich dort jeden Tag waschen. Er kommt im Herbst 1960 mitten im Präsidentschaftswahlkampf in New York an, als die Welt nach dem vergreisten Europa endlich jung zu werden versprach. Bei einer Veranstaltung kann er den strahlend jungen Kennedy fast mit den Fingerspitzen berühren.

Manches von dieser Euphorie glänzt noch durch die Seiten dieser Lebensreise, von der der Autor nicht chronologisch, sondern in thematischen Kapiteln wie “Theater”, “Krieg”, “Nazismus” oder “Universität” berichtet. Durch seine Amerika-Erfahrung und weil er anders als seine Generationsgefährten nicht die Kissinger-Schule der geopolitischen Draufsicht durchlaufen hat, wird Krippendoff früh zum Experten für den eskalierenden Vietnamkrieg. In der Zeit, im Spiegel, natürlich erst recht in der Frankfurter Allgemeinen und den Springer-Zeitungen wird Vietnam noch bis Ende der sechziger Jahre als unvermeidlicher, aber politologisch ungeheuer faszinierender Waffengang dargestellt. Krippendorff formuliert 1963 in einem Beitrag für die Frankfurter Hefte als erster Wissenschaftler Zweifel an Kriegsziel und -methoden.

Er findet bald Aufmerksamkeit und reichlich Gegner. In der Welt beklagt der Kolumnist Günther Zehm am 7. Juni 1967, fünf Tage nach der springerseits herbeigeschriebenen Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg, den Import amerikanischer Demonstrationsformen “mitsamt Installateuren und Gebrauchsanweisungen à la Krippendorff oder (Reinhard) Lettau”.

Das westliche Deutschland (zu schweigen vom östlichen) ist Mitte der Sechziger ein politisches Entwicklungsgebiet. Kritik an der Kriegsführung der USA wird auch von der in Berlin regierenden SPD als defätistisch und im Zweifel ostzonengesteuert denunziert. Krippendorff übersetzt eine Broschüre, in der Formen des zivilen Ungehorsams wie das “Sit-in” und das “Go-in” beschrieben werden. Damit wird er zum lmporteur von Konterbande, ein Entwicklungshelfer, dem die nachfolgenden 68er und Deutschland überhaupt mehr verdanken, als ihnen bewusst ist.

Die sogenannte Freie Universität lässt sich nicht lumpen: Als er im vorrevolutionären Jahr 1965 in der Zeitung petzt, dass der Rektor der sogenannten Freien Universität den Philosophen Karl Jaspers aus politischen Gründen ausladen will, wird der Assistent Krippendorff entlassen. Insgesamt zählt er sechs Versuche der Academia, ihn hinauszubefördern oder doch den weiteren Zugang zu verwehren. Krippendorff referiert jede einzelne dieser Kränkungen, erzählt von Dummheit, Hass, Neid, von Politik eben, und wie er dabei eine kastilische Provinz durchquerte, aus der heute beinah aller Geist ausgetrieben ist, in der aber zum Ausgleich ein wechselseitiges Selbstversorgungssystem auf bescheidenster akademischer und menschlicher Grundlage herrscht.

Nachdem er im liberalen Deutschland keinen Lehrstuhl erhalten kann und die USA ihn als vermeintlichen Radikalen nicht mehr einreisen lassen wollen, sind es am Ende doch die Amerikaner, die ihn retten: Krippendorff wird Professor in Bologna, aber am dortigen Ableger der Johns Hopkins University.

Erst nach zehn Jahren in Italien klappt es mit der Rückkehr nach Berlin. Auf dem Rückweg von Rom nach Berlin, wo er endlich den Lehrstuhl erhält, den ihm politische Gegner verwehrt hatten, legt er im ehemaligen Konzentrationslager sein “Dachau-Gelübde” ab: “Du lässt Dich in Deutschland nicht vereinnahmen, wirst Dich nicht bequemen, wirst als Professor und Bürger nicht Deine kritische Haltung aufgeben und nicht vergessen, dass das Bewusstsein von der nicht abtragbaren Schuld des Nazismus das historisch-moralische Leitmotiv Deiner Arbeit bleiben muss.”

Für ein anderes lebenstragendes Motiv ist er Peter Furth dankbar, der den da noch demütig Hierarchiefrommen und auch sonst Gutgläubigen auf Nietzsche und dessen “Nichteinverstandensein mit dem Zustand der Welt” hinweist: “Alles Große kommt aus dem Ressentiment.” Der “rote Faden”, der zu Anfang der “Wahlverwandtschaften” gesponnen wird, wäre hier das Erwachen eines politischen Bewusstseins nach einer wohlversorgten Kindheit in Nazi-Deutschland. Welchen Weg Krippendorff dabei zurücklegte, ist in diesem Buch nachzulesen, das damit auch eine alternative Geschichte der Nachkriegszeit bietet. Für die Faulen, die siech um Nutz und Frommen der Lektüre bringen wollen, hat es sogar ein Register.

Und eine überraschende Pointe: Ausgerechnet Krippendorff, dem die alten deutschen Ordinarien beizeiten das Leben sauer und das Fortkommen beschwerlich machten, trauert dieser Zeit nach, die – er verhehlt’s nicht – auch mit seiner Hilfe hinweggefegt wurde. So werden die “Lebensfäden” im Kapitel über die akademischen Erfahrungen zu einer flammenden Kampfschrift für eine Welt von gestern. “Die alte Ordinarienuniversität hatte zweifellos ihren Standesdünkel, sie hatte sich gesellschaftlich und politisch unliebsamen BewerberInnen verschlossen, war eine elitäre Korporation – aber innerhalb dieser Grenzen hatte sie doch immer auch einen Respekt für Qualität, duldete Originalität und Eigensinn, ließ Querköpfe und wissenschaftliche Idiosynkrasien zu.”

Als er sich in seiner Berliner Zeit nicht nur mit dem Militär, mit der fatalen Verteidigung westlicher Werte im irakischen Sand, sondern auch mit Shakespeares Komödien zu beschäftigen beginnt und den Studenten sogar Goethe zumutet, wird es vielen zu viel. Bei Goethe sieht er nicht nur den Politiker, dem er eine eigene Studie gewidmet hat (“Wie die Großen mit den Menschen spielen”), sondern einen grundreligiösen Autor: “Goethe ohne seine Religiosität ist ein amputierter, ein nicht ernst genommener Goethe”.

Im heutigen System der credit points und der Gender Studies richtet ein Hinweis auf Goethes pantheistische Kunstreligion nichts mehr aus. So wirkt es – Jahrzehnte nach Martin Heideggers Tod – unglaublich rührend, wenn Krippendorff sich daran erinnert, wie er in einer kunsthistorischen Vorlesung über die Kathedrale von Chartres in dem neben ihm eifrig mitnotierenden Hörer Martin Heidegger erkennt. Eine Lehrerin hatte ihn auf ihr Idol hingewiesen, und als er zum Studium nach Freiburg ging, schrieb Krippendorff schüchtern an den Ordinarius und fragte, ob er ihn noch in diesem Winter, im Februar 1955, auf Skiern in seiner Hütte in Todtnauberg besuchen dürfe. Der Professor, keineswegs verfemt damals, antwortete freundlich, dass er leider im Begriffe zu verreisen stehe: “Sie hätten mich früher einmal aufsuchen sollen.”

Willi Winkler
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, 12. Juli 2012, Nr. 159

Autobiografie

Ja, es gibt sie, die wohltuend undogmatische, weder ins Opportunistische noch ins Gegenteilige gewendete, so kritisch wie selbstkritisch gebliebene, an Realität geschulte und von Utopie beflügelte Linke. Sie hat einen Namen: Ekkehart Krippendorff. Ein deutscher Professor, der seinen Wurzeln nachspürt. Seine Lebensfäden weisen auf Vergangenes. Ihr eigentlicher Impetus ist das Entdecken verbliebener Möglichkeiten.

Nachdem Irr-Wege offengelegt worden sind, könne man nicht aufhören, Wege zu suchen. Zwischen Krieg, Theater, Universitäten, Nationalismus, Amerika, Juden, Italien, DDR, Musik, Religion hat er seine Fäden verwoben. Er vermag es, ehrlich zu sein, ohne sich selber zu beschädigen, vermag zu erklären, ohne sich zu rechtfertigen – und das als ein demokratischer Linker, ein von großem Theater Belehrter. Begeistert. Geerdet. In der akademischen Welt mehrfach abgewiesen, lehrte er engagiert 21 Jahre in Berlin. Skeptisch gegen verfasste Religion wird er pazifistisch angesichts der gnadenlosen Folgen der Gewalt. Überall scheint durch, welch ein Glück ihm seine Frau Eve wurde. Sich selbst und den Nachgeborenen die Zeit zu erklären – das ist ihm gelungen.

Friedrich Schorlemmer
erschienen in: Freitag, 12. Juli 2012