Einleitung
Vom möglichen Ende der Vorgeschichte als Anfang neuer Wege
Die »Dritte Welt« in Europa? Bis vor wenigen Jahren noch wäre eine solche Formulierung, auch mit Fragezeichen, als absurd zurückgewiesen worden. Die »Dritte Welt« sah man begrenzt auf die Südhälfte des Globus, auf Asien, Afrika, Lateinamerika, große Teile jedenfalls davon, während Westeuropa und Nordamerika als die reichen Regionen mit gesichertem Wohlstand auch für breite Bevölkerungsschichten galten. Diese Sichtweise ist nicht ganz falsch geworden, aber die Realität hat sich doch sehr verändert.
Die Entwicklung, vor allem der Weltwirtschaft, ist schon seit den neunziger Jahren dabei, die Karten neu zu mischen. Die grobe Einteilung in den reichen Norden und den armen Süden ist weithin schon überholt. Diese Identifizierung von sozioökonomischen Strukturen mit räumlichen Großregionen verschleiert inzwischen mehr die Realität als daß sie sie korrekt bezeichnen, geschweige denn erklären könnte. Daß die Unterschiede von reich und arm, über- und unterentwickelt, schon lange nicht mehr mit Großräumen identisch sind, bedeutet nicht, daß es diese Unterschiede nicht mehr gibt. Sie sind, ganz im Gegenteil, ständig im Wachsen begriffen, bis heute. Aber sozialräumlich erscheinen sie heute in einer Mosaikstruktur, in der sich, kleinteiliger als bisher, Wachstum und Stagnation, Armuts- und Reichtumsregionen, Wohlstand und Elend gegenüber stehen. Daher ist die geographisch orientierte Rede vom Nord-Süd-Gegensatz (so wenig wie die vergangene vom Ost-West-Konflikt), nicht geeignet, die Strukturen und die Konfliktformen zu bezeichnen und zu erkennen, auf die sie zielt.
Seit dem Zusammenbruch des »Realsozialismus« gibt es nunmehr unmittelbar die eine Weltgesellschaft, die zuerst vereinheitlicht wird etwa seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch den globalen Konkurrenzkampf international tätiger, sehr großer privatwirtschaftlicher Unternehmen. Sie verfolgen länder- und regionenübergreifende Strategien der Kapital-, Material- und Arbeitskräftebeschaffung, ihrer produktiven Verwertung und des Absatzes (sogenanntes worldwide sourcing, producing and marketing). (1)
Seit 1999 ist diese ökonomische Dynamik in eine neue Runde eingetreten: eine Welle von Fusionen und Aufkäufen. Sie wird nur sehr unscharf mit dem Allerweltswort »Globalisierung« bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich darum, in die kommenden Schlachten der Weltwirtschaftskriege mit Multi-Konglomeraten und organisierten Regionen einzutreten. (2) Hinzu kommt die Kombination von Gewinnerzielung in den produktiven Sektoren mit derjenigen auf den Finanzmärkten, gesteuert durch den jeweiligen erwarteten Zusatzgewinn. Die mundialen Rahmenbedingungen ökonomischer Erpressung und Transformation der Politik in Standortkonkurrenz werden geschaffen und verändert durch übernationale bis globale Zusammenschlüsse, Institutionen, Abkommen oder okkasionelle Eingriffe, so z.B. die großen Wirtschaftszusammenschlüsse wie EG (Europäische Gemeinschaft), NAFTA (Nordatlantisches Freihandelsabkommen), MERCOSUR (Gemeinsamer Markt der Cono-Sur-Staaten: Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay), das neue Welthandelsabkommen WTO, schon traditionelle Institutionen wie IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank oder informelle Abstimmungsgremien wie G 7/8 (Gruppe der sieben reichsten Länder, mit Rußland am Katzentisch, wegen seiner Atombomben). Das Scheitern des multilateralen Investitionsabkommens im Mai 1999 und der letzten Verhandlungsrunde der internationalen Welthandelsorganisation, WTO, in 2000 in Seattle haben gezeigt, daß eine globale Rahmensteuerung des mundialen Kapitalismus wahrscheinlich nicht mehr möglich ist. Dafür ist der irre Amoklauf des Kapitals, die »kapitalistische Anarchie« der auseinanderweisenden Kräfte, schon zu weit fortgeschritten. Es ist ein wüstes Durcheinander von Interessengegensätzen, Konkurrenz, ökonomischen, politischen und militärischen Kämpfen, Krisen, Zusammenbrüchen, leichten Erholungen, neuen Krisen etc., dem wirklich jede Vernunft abgeht, das heißt ein positiver Bezug auf humanistische Werte.
Zur Vereinheitlichung der Weltgesellschaft über den Weltmarkt gehört, daß weltweit, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Armut und Elend anwachsen und die »Dritte Welt« als abgegrenzte Großregion dadurch aufgehoben wird, daß sie tendenziell Moskau und Warschau, Berlin und Paris, London und New York einbezieht. Die »Dritte Welt« hat längst begonnen, überall zu sein. Ob es im Verlaufe dieser Entwicklung noch »sichere und stabile Heimaten« für die multinationalen Konzerne und für politische Institutionen geben wird, das läßt sich noch nicht absehen. Die Reaktion der Politik auf die soziale Gewalt, in USA oder in Brasilien, ist Flucht in die staatlichen Gewaltapparate; die Mittel- und Oberschichten unterhalten ihre privaten Schutzgarden. Nun ist diese globale dynamische Kapitalwirtschaft höchst risiko- und krisenanfällig, und dies auf eine relativ neue, spezifische Weise, als Zusammenhang von Exklusion und Kontraktion des realen und als Turbulenzen des Finanzkapitals, die über das reale Kapital hereinbrechen. Darum ist die Akkumulation von Reichtum in verschiedenen Sektoren und Regionen wieder anwachsend begleitet von Armut und Elend. Zunehmend weniger ist nämlich der Kapitalismus heute ein System, das in seine Ausbeutungsdynamik die abhängige Arbeit integriert und sich durch Arbeitsplätze, Einkommen und Konsum »für alle« legitimiert. Das war einmal »das sozialdemokratische Jahrhundert«, wie Seine Lordschaft Sir Ralf Dahrendorf, liberal gesonnener Soziologe (3), in souveräner Mißachtung geographisch-politischer Proportionen das nannte (in Afrika zum Beispiel war von den Wohltaten dieses Jahrhunderts nur wenig oder nichts angekommen). Heute schließt der Kapitalismus Bevölkerungsgruppen und ganze Regionen aus der sozialreformerischen Integration wieder aus oder nimmt sie erst gar nicht auf, wie das Teilen der dazu sich drängenden Bevölkerung im Osten Deutschlands und mehr noch Europas ergangen ist. Seine Jahrhunderte währende Erweiterungsdynamik scheint gegenwärtig ihre Potentiale weitgehend ausgeschöpft zu haben. Erfindungen, die in großem Maßstab Arbeitsplätze schüfen, statt sie vermittels kapitalistischer Anwendung zu vernichten, sind nicht in Sicht. Vielmehr sind Computerisierung und Gentechnik, die Leittechnologien des 21. Jahrhunderts, Instrumente der Rentabilitätssteigerung mit der Folge extremer Ausschließung. Verschiedenen Prognosen zufolge werden in absehbarer Zeit drei Viertel der potentiell ökonomisch aktiven Bevölkerung dauerhaft aus der formalen Ökonomie ausgeschlossen sein. Ebenso wenig gibt es neue Länder zu entdecken, die in die Wirtschaftsdynamik einzubeziehen wären, im Gegenteil: gegenüber den neuen Marktwirtschaften des Ostens hat sich das Kapital bis heute eigentümlich spröde gezeigt. Denn der neue Kapitalismus erzielt seine Gewinne entweder überhaupt nicht mehr in der Produktion, die abhängige Arbeit noch irgend einschließt, sondern in der Finanzspekulation, oder aber in der Produktion nur verbunden mit zwei Ausschließungsmechanismen: durch Hochtechnologieeinsatz, der Arbeitskräfte einspart, und durch den Ausschluß von Unternehmen, mit ihnen Belegschaften und über die Marktverflechtungen auch Regionen, die im Technologiewettlauf nicht mithalten können. Darum also verarmen heutzutage auch Regionen und Orte in Nordamerika und Westeuropa, in Deutschland beispielsweise.
»Nord-Süd-Konflikt« ist heute eine nichts erklärende Bezeichnung dafür, daß es sich um den Abwehrkampf der verarmenden gegen die längst verarmten oder absolut verelendeten Regionen handelt. Die Rede vom Mittelmeerraum als der »heißesten Nord-Süd-Grenze« (4), verweist darauf, daß in einem Augenblick, wo mit ökonomischer Ausschließung und dem tendentiellen Verschwinden des Sozialstaates die Armut in Europa wächst, sich diese verarmende Region rüstet gegen die Ansprüche der längst Verarmten und Verelendeten vor allem aus Afrika und Vorderasien, das heißt gegen die Folgen der jahrhundertelangen zerstörerischen ökonomischen und politischen Expansion. Daher wächst spiegelbildlich zum Abbau des Sozialstaates der Sicherheitsstaat mit seiner (potentiell) gewalttätigen Krisen- und Katastrophen-Verwaltungspolitik. Auf die »außen-militärische« Seite des Konflikts verweisen die ersten Kriege und bewaffneten Konflikte innerhalb der Weltgesellschaft: 1991 gegen den Irak, in einer Region, deren Kontrolle wegen ihrer Erdölreserven akkumulationsstrategisch entscheidend ist, und gegen »Rest-Jugoslawien«, 1999, um die geostrategisch motivierte Vorherrschaft auf dem Balkan zu etablieren. Diese Motive erklären auch, warum es der NATO nicht gelungen ist, auf dem Balkan ihre humanitären offiziellen Zielsetzungen zu erreichen. Sie waren Propaganda zur Rechtfertigung des Krieges. Humanitär war der Krieg ein Fehlschlag, geostrategisch endete er mit einem Zuwachs an Kontrolle. Im Zeichen zunehmender Verknappung der nicht erneuerbaren Naturressourcen und vor allem angesichts der baldigen Erschöpfung der wirtschaftlich rentablen Erdölquellen könnten der Irak- und der Balkankrieg die ersten Kontroll- und Verteilungskriege des 21. Jahrhunderts gewesen sein, denen weitere folgen werden. Zu befürchten sind immer große Schäden an der natürlichen und an der ökonomischen und infrastrukturellen Umwelt der regionalen und lokalen Bevölkerung.
Fundamental für die Entwicklung der Weltgesellschaft ist ein Typus von Konflikt, in dem sich der weltweite Zugriff auf Rohstoffe einerseits und andererseits der artikulierte Anspruch auf souveräne Nutzung dieser Vorräte durch die ansässige Bevölkerung für ihre selbständige Entwicklung gegenüberstehen. Auch dieser Konflikt ist von Seiten der politisch-militärischen Institutionen des transnationalen Kapitals friedlich nicht oder nur schwer lösbar. Ein Beispiel hierfür ist der verdeckte »Krieg geringer Intensität« gegen eine indigene Guerilla in Chiapas, Mexiko, die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre vor allem politisch große Erfolge erzielen konnte, durch jenen Krieg jedoch die Kontrolle über einige Gebiete und die Unterstützung seitens eines Teils der indigenen Bevölkerung verloren hat. Welche direkte Gewalt die kapitalistische Ökonomie immer wieder freisetzt, das hatte auch die Chiapas-Affäre der Chase Manhattan-Bank im Februar 1995 gezeigt.
Nach Zeitungsmeldungen war die Politik der Zapatistas in Mexiko von der Bank als »unannehmbar« eingeschätzt und daher von ihr ein wissenschaftliches Gutachten bestellt worden zur Begründung einer militärischen Invasion mit dem Ziel, die Bewegung mit Gewalt aus der Welt zu schaffen. Der von langer Hand vorbereitete Angriff der mexikanischen Armee in Chiapas wurde in der öffentlichen Diskussion mit dieser ökonomisch begründeten geopolitischen Position der Bank in Verbindung gebracht. (5)
Seit etwa 1997 tritt der Konflikt auf der Stelle. Chiapas ist der ärmste – Lebensniveau der Indigenas – und reichste Staat Mexikos: Erdöllager, Mineralreserven, einschließlich Uran. Um ihr Leben zu leben, müssen die Maya-Indios nicht die Erde aufgraben; sie ist ihnen heilig und die Ökonomie dem Zusammenleben und kulturellem Ausdruck untergeordnet. Das Kapital muß graben, um die Mehrwert- und Profitproduktion mit Rohstoffen und Energie zu alimentieren. Der Konflikt ist ein grundlegender, zwischen zwei völlig verschiedenen Gesellschaften. Die eine ist sozio-politisch und ökologisch nachhaltig, ruft auch auf lange Sicht keine Schäden hervor, die andere ist zerstörerisch.
Die neuen Konflikte und Kriege und die Furcht Europas und der USA, selber zu verarmen, von der »Dritten Welt« gleichsam unterwandert zu werden, hängen zusammen. Die strategischen Reserven an Naturschätzen müssen militärisch weltweit gesichert werden, so, als lebten wir wieder im 19. Jahrhundert. Gegen die Armutswanderung, in der sich vor allem die Jahrhunderte währende Ausplünderung des Südens bis heute und die Imitation gefährlicher Aspekte des Nordens spiegelt – so die Weiterverbreitung von Atomwaffen und die Kriege im Süden – baut der Norden »Mauern«, weil er schon das Armutsproblem, das jetzt in ihm selber aufbricht, nicht lösen kann. Darum ist die Formulierung »Dritte Welt Europa?« berechtigt.
Die Dritte Welt wird als geographisch abgegrenzter Problembereich dadurch aufgehoben, daß sich die Armuts- und Verelendungsphänomene mosaikartig ausbreiten, die großräumigen Abgrenzungen verwischen und zunehmend ihre alten geographischen Verursachungszentren, Westeuropa und Nordamerika, einbeziehen. Das macht es notwendig, die neue Armut in Europa und ihre Ursachen in einem neuen Typus von kapitalistischer Wirtschaft und flankierender Politik zu erkennen. Beide drängen Menschen an den Rand der Gesellschaft oder schließen sie aus. Was eigentlich in diesem Zusammenhang Armut ist, kann mit Hilfe des Begriffs der Menschenwürde erschlossen werden. Armut ist Inbegriff der Verletzungen der Menschenwürde. Damit ist der Anspruch geltend gemacht, jenseits demütigender und befriedender Kontrollstrategien, die die Armen ruhig stellen sollen, Armut zu beseitigen über die Schaffung der Voraussetzungen für die ganze Menschenwürde.
Wenn nun Armut heute gerade auch in den als reich geltenden Regionen wie Europa zunimmt, wenn sich dies auch auf das absehbare Ende der sozial ausgleichenden Politik bezieht, wenn das alles schließlich notwendige Folge der gegenwärtigen Gestalt der Grundstruktur des marktwirtschaftlichen Kapitalismus ist, dann hat das entscheidende Konsequenzen für die Frage nach einem Ausweg aus dieser umfassenden und fundamentalen Krise, nach Antworten auf den realexistierenden destruktiven Fundamentalismus von kapitalistischer Ökonomie und staatlicher Politik, die ihr mehr oder weniger dient.
Um zu Antworten auf diese Fragen zu gelangen, ist es notwendig, gegen den Zeitgeist sich solcher Erfahrungen und Traditionen zu versichern, die in der »Jetzt-Zeit« (6) eines neuen Beginnens aktuell sind, weil sie zur Klärung der Aufgabe beitragen. Solche Aktualisierung bedeutet nicht Wiederholung, sondern das Herauslösen des Wahrheitsgehaltes aus Konzeptionen, in denen sich richtige Einsicht mit ideologischer Verzerrung und Funktion mischen. Eine solche frei und kritisch sichtende Aneignung steht weithin noch aus. (7) Interessant ist, daß eines der Verlautbarungsorgane des mundialen Kapitalismus, The Economist, London, 1998 schrieb, angesichts einer neuen Welle der internationalen Wirtschaftskrise, als sie zum zweiten Mal in Asien ausbrach und sich ihren Weg über Rußland nach Brasilien bahnte: »Wir müssen wieder Marx lesen.« Wie man sieht enthält zuweilen die Selbstreflexion des Kapitals einen Realismus, der den rosa-grünen Schwätzern fehlt – aus Feigheit und Opportunismus, nicht aus Mangel an Begabung. (8)
Der gegenwärtig in vieler Hinsicht zerstörerische Kapitalismus verweist auf die Notwendigkeit eines erneuten Nachdenkens über die derzeit noch verpönten, mit einem starken Tabu belegten Konzepte Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus.
Nachdenken kommt zu einem praktisch wichtigen Ergebnis: Im Osten Europas und im Gebiet der früheren Sowjetunion ist mit dem sogenannten Realsozialismus ebenso wenig wie im Süden mit den bisherigen Befreiungsbewegungen eine Utopie am Willen zu ihrer Verwirklichung gescheitert, wie der »postmoderne« Zeitgeist glauben machen will und wie allenthalben behauptet wird. Notwendig gescheitert – sicher auch aufgrund starker externer negativer Faktoren – sind Versuche, im Namen des Sozialismus schlecht imitierte und noch verstärkte Basisstrukturen der westlichen Moderne zu übernehmen, statt zu versuchen, eine authentische utopische Alternative zu diesem modernen System der Herrschaft zu realisieren. Der Wille zur Verwirklichung authentischer Utopien der konkreten Freiheit und daher auch Gerechtigkeit steht gerade heute erst richtig auf der Tagesordnung. Denn wir leben in einem Augenblick, den praktisch zweierlei kennzeichnet. Erstens nehmen die Probleme und Katastrophen innerhalb der global gewordenen westlichen Lebensform ebenso sehr zu wie sie, innerhalb dieses Rahmens, immer unlösbarer erscheinen. Zweitens verlieren sich die propagandistischen Fehleinschätzungen des gescheiterten östlichen Experiments. Sie weichen der Einsicht, daß dieses Experiment sich herausgestellt hat als eine anti-utopische Praxis, die in der Tiefe mit dem Westen vielfach verwandt gewesen ist. (9)
Der Zusammenbruch des Ostens und das Ende der herkömmlichen Befreiungsbewegungen im Süden – zunächst als Guerilla und dann als neue Elite an der Macht – signalisieren eine epochale Zäsur, hinter die nicht zurück gegangen werden kann. Es ist das Ende der modernen Herrschaftsgeschichte, deren jeweiliger Fortschritt zu einer neuen Herrschaftsform sich durch einen bestimmten Typus von Revolution hindurch verwirklicht hat: wir nennen ihn hier mit Bezug auf zwei herausragende Revolutionen »Jakobinertum« und »Avantgardismus«. (10) Mit der Geschichte moderner Herrschaft geht zugleich auch diese Revolutionsgeschichte zu Ende, die von der Großen Französischen Revolution von 1789 über die Februarrevolution in Rußland von 1917 bis hin zu den Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«, von China bis Nicaragua, gewährt hat. Das identische Merkmal dieser Revolutionen ist es gewesen – trotz aller sozialistisch-kommunistischen Rhetorik und Ideologie sowie humanen Fortschritten im Einzelnen, die hier nicht geleugnet werden – sich innerhalb der modernen Herrschaftsgeschichte und des kapitalistischen Weltsystems bewegt zu haben. Der objektive Sinn all der Bewegungen, Reformen und »Revolutionen« im 20. Jahrhundert war es, den kapitalistischen Weltmarkt so zu modifizieren und zu erweitern, daß Teile der Regionen des früheren sogenannten Realsozialismus und der südlichen Hemisphäre in dieses kapitalistische Weltsystem in ungleicher Weise ökonomisch integriert werden, andere jedoch dauerhaft an den Rand gedrängt oder ausgeschlossen wurden, weshalb sie, als »Unruheherde«, politisch und militärisch kontrolliert werden müssen.
Zugleich erklärt die strukturelle Abhängigkeit der bisherigen Befreiungsbewegungen und Revolutionen vom kapitalistischen Weltsystem, daß alle sozialistisch-kommunistisch legitimierten derartigen Bestrebungen entweder sofort oder im Verlaufe einer kürzeren oder längeren Entwicklung gescheitert sind. Das Original, das sie mehr oder weniger imitiert haben, Westeuropa und Nordamerika, sowie deren heutige dynamischen Kerne, die multinationalen Konzerne und die globalen ökonomischen und politischen Steuerungsinstitutionen, hatten sich als stärker erwiesen als die Kopien und Variationen. Damit ist die moderne Herrschaftsgeschichte als Mundialisierung, so weit sie Expansion der kapitalistischen Produktionsweise war, beendet. Aber, wie die tägliche Erfahrung seit der Implosion des sogenannten Realsozialismus lehrt, geht die Geschichte nach diesem, dadurch schon relativierten, »Ende« weiter oder wieder einmal erst so richtig los. Wir leben in aufregenden und spannenden Zeiten, das kann gesagt werden. Der ökonomische Zusammenbruch der sogenannten Tigerstaaten in Südostasien 1997, die sich im Sommer 1998 noch verschärfende Krise Japans, das bis vor kurzem noch als eine der ökonomischen Hauptmächte galt, und die Ausstrahlung der asiatischen, der russischen und der lateinamerikanischen Krise auf Westeuropa und die USA 1998, weisen darauf hin, daß nicht mehr Expansion, sondern Kontraktion und Exklusion das Gesetz des neuen Kapitalismus ist. Die Rezession in Brasilien, die 1996 begann und sich bis Ende 1998 kontinuierlich verschärft hat, mit einer leichten Erholung in 2000 (Zuwachs des Bruttosozialprodukts von 1 Prozent) nach Stagnation auf niedrigem Niveau 1999, belegt, daß die wachsende Verarmung und Verelendung bis auf weiteres die Bedingung ist für verbesserte innerkapitalistische Indikatoren: vor allem finanzwirtschaftliche Gewinnerzielung.
Das Ende der Expansion des modernen Herrschaftssystems hat eine doppelte Bedeutung. Denn der Wegfall der scheinbar externen Konflikte – mit dem Ende von Ost-West-Konflikt und Befreiungsbewegungen – ferner der noch nicht vollständig kapitalistisch durchdrungenen funktionalen Expansionsräume (11) und schließlich die schrittweise Auflösung der internen ausgleichenden sozialen Reformpolitik setzen nun zum ersten Male in der Geschichte des modernen Kapitalismus dessen selbstzerstörerisches internes Krisenpotential frei. Es wird heutzutage nicht mehr, zumindest nicht mehr hinreichend, durch soziale Reform im Inneren und äußere Expansion ausgeglichen. Die Wirtschaftskrise und die mit ihr zusammenhängende Zivilisationskrise des westlichen Modells werden damit permanent und vertiefen sich schrittweise. Sie sind letztlich Folge des Widerspruches zwischen anwachsendem Produktionspotential und investierbarem Kapital und andererseits begrenzten Gewinnchancen und überforderten Verkaufsmärkten im Verhältnis zu den Potentialen und Kapitalien. Sie führen zum Zusammenhang von zwei Ausschlußmechanismen: Rationalisierung und Konkurrenz. Rationalisierung schließt unmittelbar Beschäftigte, Konkurrenz Unternehmen samt ihren Belegschaften aus. Rationalisierung verschärft Konkurrenz, diese beschleunigt Rationalisierung.
Das Kapital hat immensen Reichtum hervorgebracht und die wissenschaftlich-technischen Bedingungen für Überfluß, mit denen es aber nichts Vernünftiges anzufangen weiß, weil die Verwirklichung dieser Reichtumspotentiale die kapitalistische Akkumulationslogik zerbrechen würde, die Nutzung dieser Potentiale nur in einer anderen sozialen Logik möglich ist. Ein Ergebnis davon ist die weitgehende Ausschließung von großen Regionen und Bevölkerungsgruppen – etwa in Afrika südlich der Sahara – aus der aktiven Teilnahme an der Dynamik des Weltmarktes. Die nächsten Opfer der Ausschließung könnten Rußland und andere Nachfolgestaaten der früheren UdSSR sein. Der ökonomischen Entwicklung entspricht als soziale und politische Reaktion in den alten Kernregionen der kapitalistischen Marktwirtschaft die Verteidigung der Besitzstände und das Krisenmanagement. Blutige Ausschließung und militärische Kontrolle realisiert der »Freie Westen« gegenüber »Schurkenstaaten« wie dem Irak, seit 1992 (man beachte die intellektuelle Brillanz dieser Mickey-Mouse-Sprache!) und seit 1999 gegenüber Jugoslawien.
Damit sind die wichtigsten Tendenzen schon benannt, die den Inhalt der Geschichte nach dem Ende der Expansion des kapitalistischen Herrschaftssystems ausmachen. Das sind die »Permanenz der Krise« und des »Krisenmanagements«, andererseits die Entlassung von Regionen, Bevölkerungen sowie natürlichen, menschlichen und technischen Potentialen aus der Dynamik des Weltmarktes bei gleichzeitiger, vor allem politischer, zuweilen auch militärischer Kontrolle dieser ausgegrenzten Bereiche. Allgemein, und das ist der hier entscheidende Schluß aus der sehr knappen Analyse, ist aber mit jenen Ausgrenzungen zugleich die Chance gegeben, daß die Ausgeschlossenen mit ihren verbliebenen Kräften und Ressourcen nach dem Ende der expansiven Herrschaftsgeschichte eine von ihnen souverän bestimmte Entwicklung, eine echte Menschheitsgeschichte beginnen. Nachdem die Ausgeschlossenen lernen mußten, daß das Kapital sie nicht mehr braucht, der Staat sie aber noch kontrolliert, könnten sie lernen, daß sie das Kapital und den Staat nicht mehr brauchen und wie sie der staatlichen Kontrolle sich entziehen können, um souverän ihr gesellschaftliches Leben zu entwickeln und zu konstruieren, ein Leben im Frieden mit sich selbst und mit der Natur in Formen konkreter Freiheit, die daher auch Gerechtigkeit ist, letztlich für das persönliche Glück, das auch im allgemeinen seine Erfüllung findet.
Waren die bisherigen Revolutionen von 1789 bis 1917 und darüber hinaus nur Umwälzungen innerhalb des integrierten sozioökonomischen, ökologischen, politischen, kulturellen und psychischen Herrschaftssystems der Moderne, so steht ein wahrer revolutionärer Prozeß noch aus, der eine befreite Gesellschaft, daß heißt vor allem: befreit von Kapital und Staat, zum Ergebnis haben würde.
Ist die vorgetragene Einschätzung zutreffend, so ist die sozialistisch-kommunistisch-anarchistische Utopie der Befreiung für eine freie und gerechte Gesellschaft nicht – wie es der verblendete und konformistische Zeitgeist verkündet – überholt, sondern sie beginnt gerade, eine aktuelle Aufgabe in der Gegenwart zu sein. Sie schließt ein die erinnernde Vergegenwärtigung der unerfüllten, darum zu aktualisierenden, Hoffnungen der Vergangenheit und die verwirklichende Vorwegnahme der Hoffnungen auf die Zukunft. Damit ist nicht die rasche und vollständige Realisierung eines abstrakten Modells, sondern das Gehen der jeweils möglichen Schritte in praktischen Experimenten in den strukturell und räumlich ausgeschlossenen Bereichen gemeint. Mit dem Reformismus hat dieser neue Weg gemeinsam ein schrittweises Vorgehen, das nicht grundsätzlich abzulehnen ist; aber er widerspricht diesem durch den sofortigen Beginn mit dem experimentellen Aufbau neuer Strukturen des kommunitären, effektiv demokratisch institutionalisierten Lebens und Arbeitens. Mit sozialistisch-kommunistisch legitimierten bisherigen Revolutionen hat der neue Weg die Intention gemeinsam, eine freie und gerechte Gesellschaft aufzubauen. Aber er widerspricht der bisherigen revolutionären Politik, indem er dem sofortigen sozialen Strukturaufbau den Vorrang einräumt, damit den Vorrang einer politischen Machteroberung ablehnt, Politik an die zweite Stelle verweist und sie als eine die bestehenden Mächte auflösende und die Keime und Fortschritte der neuen Gesellschaft schützende Strategie betreibt. Das wäre eine »Politik der Anti-Politik«, die sich selber im gleichen Maße aufheben würde, wie die alternativen gesellschaftlichen Strukturen wachsen und die noch herrschenden Mächte gleichsam von innen, subversiv, aufgelöst werden. Solche Politik wirkte »auf unblutige Weise letal« (12)(= tödlich) auf die bestehenden strukturellen und direkten Gewalten: sie würden zerstört.
Ein Beispiel aus der »Dritten Welt« für diesen neuen Weg, jenseits von bloßer Reform oder konventioneller Revolution, weil jenseits von Macht-Politik, ist die schon erwähnte indigene Zapatistische Bewegung in Mexiko in den neunziger Jahren. Dagegen spricht auch nicht deren bewaffnetes Potential. Es ist ein Gewaltpotential, das transitorisch und symbolisch gebraucht worden ist, um die an alte Traditionen anknüpfenden neuen kommunitären Strukturen zu verteidigen im begrenzten Einflußbereich der Guerilla und um die Kräfte einer sozialen, zivilen Bewegung in der Gesamtgesellschaft für eine Politik der sozialen und politischen Demokratisierung anzuregen, auch mit dem Ziel, so bald wie es dieser soziale Entwicklungs- und Demokratisierungsprozeß ermöglicht, die eigene bewaffnete Macht aufzulösen. Darum ist die aktuelle zapatistische Guerilla eine soziale Revolutionsbewegung neuen Typs und wurde zu Recht von dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes die erste post-moderne Guerilla des 21. Jahrhunderts genannt.
Für die Lösung der bisher skizzierten Aufgabe legt das vorliegende Buch einige Materialien vor und eröffnet eine Perspektive jenseits von Kapital und Staat.
Ein Anfang wird gemacht mit dem Thema Menschenwürde. Nur sie wirft ein Licht auf das, was Armut ist, auf ihre Ursachen in der mundialen Krise des Kapitalismus, auf die hellen und die dunklen Seiten in der modernen Befreiungsgeschichte.
An der Schwelle zum 21. Jahrhundert besteht die Herausforderung darin, ein neues Projekt der Befreiung zu erfinden in Fühlung mit der Kritik der gegebenen gegenwärtigen Situation. Ein solches Projekt müßte zwei Bedingungen erfüllen: in Kenntnis der aktuellen ultramodernen Herrschaftsverhältnisse deren Überwindung anzustreben und in keinem Punkte die falschen Merkmale der bisherigen historisch überlebten Änderungs- und Befreiungsversuche zu wiederholen – seien sie nun reformerischer oder scheinbar revolutionärer Natur gewesen. Die wichtigsten konventionellen Formen der Politik, und mit ihnen Politik überhaupt, sind an ihrem Ende angekommen. Ihre Wiederholung oder Variation ist ausgeschlossen. Dem sozialdemokratischen Finanzminister Lafontaine wurde 1999 von der deutschen sozialdemokratischen Regierung verwehrt, keynesianische Wohlfahrtspolitik zu betreiben. Darum ist er von sich aus zurückgetreten. Das belegt den angesprochenen Sachverhalt.
Ein neues Projekt kann anknüpfen an die vielfältigen Traditionen eines dritten Weges der Befreiung. (13) Diese Alternativen kreisen um die Begriffe und Erfahrungen utopischer Sozialismus, Anarchismus, Anarcho-Kommunismus und Komunitarismus. Das schließt die geschichtlichen Durchbrüche einer authentischen kommunitären Praxis des christlichen Glaubens ein – von den Anfängen in der Jesus-Bewegung vor 2000 Jahren bis hin zu heutigen Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die von diesem Glauben motiviert sind. Alle diese Strömungen sind bisher sowohl in gegebenen Herrschaftsverhältnissen, wie in den traditionellen Reform- und Revolutionsprozessen verleumdet, verlästert und unterdrückt worden. Das verweist auf ihren wahrhaft authentischen Gehalt und auf ihre Aktualität, nachdem sich die anderen Wege als Sackgassen im modernen Herrschaftssystem erwiesen haben. (14)
Ein neuer Weg, der diese Erfahrungen und Konzeptionen aktualisiert, besteht darin, im Hier und Jetzt, in jedem Augenblick neu und so weit die jeweils gegebenen Kräfte und Möglichkeiten reichen, die Utopie des Lebens freier Personen in frei geordneten Gemeinschaften zu realisieren. In dieser Realisierung von Zellen und Bereichen der »neuen« mitten in der »alten Welt« (15) werden sich dann auch die Kraft, der Mut und die besonderen, notwendigen Vorgehensweisen für den auflösenden Umgang mit den Großstrukturen von Kapital und Machtpolitik finden. Ein solcher Weg bedarf der Phantasie, der Begabungen und Fähigkeiten, der theoretischen und praktischen Klugheit vieler ganz unterschiedlicher einzelner Menschen und sozialer Gruppen, statt sie – wie das in traditioneller Politik üblich ist – einem vereinheitlichenden Schema unterzuordnen und damit jene Kräfte zu unterdrücken und so von innen das Erreichen lohnender Ziele zu sabotieren. (16) In Deutschland gab es einen Aufbruch hin zu kommunitärer Lebensweise am Ende der siebziger Jahre. Aber in den neunziger Jahren blieben nur sehr wenige Gemeinschaften übrig. Einige von ihnen haben die Erinnerung an die Aufbrüche der siebziger Jahre bewahrt. Daß sich diese Bewegung im 21. Jahrhundert wieder entfalten wird als Reaktion auf die permanente Krise und Ausschließung, ist im Augenblick noch mehr eine Hoffnung als eine Realität. Die theoretische Arbeit, die diesen Traditionen und den gegenwärtigen Erfahrungen entspricht, ist noch überwiegend zu leisten. (17)
Bei der kreativen Entwicklung neuer Wege, die ihr Fundament und ihre Substanz haben, handelt es sich nicht zuerst darum, unmittelbar oder vordergründig originell zu sein und schon gar nicht, ständig Neues von der Art in die Welt zu setzen, die schon veraltet ist, kaum daß sie sich zeigt, weil es sich bloß um Symptome der kapitalistischen Strukturkrise handelt, um die »ewige Wiederkehr des Neuen«, wie Walter Benjamin formuliert hat. Und im abgebrühten Gestus des sich auskennenden Bescheidwissens ist das immer noch nicht Erkannte verdeckt, auch verdrängt, das darauf wartet, gesehen, geborgen und gelebt zu werden. (18)
Das Neue, das Kraft und Bestand hat, ist zuweilen mit sehr Altem verschwistert; in diesem Alten ist es das Andere (19), darum möglicherweise das authentisch Neue. Auch das kann als ein Beispiel die Zapatistische Bewegung in Mexiko uns lehren. (20) Darum kommt es darauf an, sich in der Kunst zu üben, eine Wahrheit immer wieder so zu sagen, daß die Wirklichkeit, die sie innerlich immer schon ist, wahr wird, indem sie nach draußen wirkt. In diesem, wie in jedem Augenblick, ist unerbittlich im Denken und unbeirrbar im Sprechen auf das hinzuzeigen, was wir heute, gerade hier und jetzt, wissen können, wenn wir nur wollen und auf das, was wir tun können und tun sollen, wenn wir dem Mut und dem Vertrauen eine Chance geben, die uns mit der Menschenwürde ebenso zugesprochen wie von uns gefordert sind. Bei aller gesellschaftlichen Bedingtheit und daher Ohnmacht der einzelnen Existenz ist die Einsicht in diesen Sachverhalt doch zugleich zu vermitteln mit der ethischen Aufgabe, für diese Existenz immer neu eine Wahl zu treffen. Statt sie hinzunehmen – womöglich gerechtfertigt durch falsch verstandene Kritische Theorie – sie im Sinne Satres autonom zu verantworten gegenüber der Erfahrung der Gesellschaft und ihrer Analyse, die in Sartres Denken solche Übernahme der Verantwortung nicht ausgeschlossen haben. (21)
Viel gewonnen ist schon damit, den Blick aus der verblendeten Verstrickung in das falsche Bestehende zu lösen, zu zeigen: es ist begrenzt, nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit dauernd, wie das die noch herrschende aber schon nicht mehr selbstverständliche quasi-religiöse Verehrung des Kapitals behauptet, denn es ist seiner eigenen Zerstörungsdynamik ausgeliefert. Es gab, wenn auch mit eigenen Problemen behaftet und daher nicht zu verklären, eine Leben vor und es gibt daher auch ein Leben nach dieser Ökonomie und Politik des Todes. So möchte das vorliegende Buch nichts weiter, als die Aufgabe eines neuen Beginnens sichtbar machen, seine Notwendigkeit ebenso wie seine Möglichkeit. Es wünscht sich Leserinnen und Leser, die sich anregen lassen zum Mut zu rücksichtsloser, wahrhaftiger, sich vom Falschen und Gescheiterten lösender Kritik und zur Wahrnehmung der Aufgaben eines ganz neuen Beginnens, das auch aus dem Unabgegoltenen der ältesten Quellen schöpft, um sich gemeinsam auf die anderen Wege zu begeben.
São Leopoldo, Rio Grande do Sul,
Jahr 2000, im brasilianischen Frühling
Anmerkungen
(1) Vgl. Fröbel/Kreye/Heinrichs, Umbruch in der Weltwirtschaft. Die globale Strategie: Verbilligung der Arbeitskraft, Flexibilisierung der Arbeit, Neue Technologien, Reinbek b. Hamburg 1986.
(2) Einen Vorgeschmack bieten die ständigen Streitigkeiten um Exportsubventionen und Importbeschränkungen im Gemeinsamen Südamerikanischen Markt (MERCOSUR) zwischen Argentinien und Brasilien. Etwas härter sind schon die Ermächtigungen der Welthandelsorganisation: Sie verhängt Strafen als Vergeltung für Einfuhrstop oder -beschränkung. Eine brasilianische Wirtschaftszeitung listet die folgenden Fälle auf: Kanada gegen Brasilien 1,4 Milliarden US Dollar. Grund: Erschwerung des Imports von Flugzeugen. Ecuador gegen die Europäische Gemeinschaft 201,6 Millionen US Dollar. Grund: Erschwerung der Einfuhr von Bananen. Die USA gegenüber der EU 191,4 Millionen US Dollar. Grund: Behinderung des Bananen-Imports. USA gegen die EU 116,6 Millionen. Grund: Stop der Einfuhr von Rindfleisch mit BST-Wachstumshormon. Kanada gegen die EU 7,7 Millionen US Dollar. Grund: Einfuhrstop für hormonbehandeltes Rindfleisch. Vgl. Gazeta Mercantil, 23.8.2000, S. A4. Freilich werden die Strafen nicht unmittelbar verhängt, zuerst wird noch verhandelt.
(3) Nach eigenem Eingeständnis hat der Arme die Kritische Theorie nie begriffen, obwohl er Assistent bei Adorno war.
(4) Vgl. Franz Nuscheler, »Fluchtburg« oder »Festung«? Der Migrationsdruck auf EG-Europa, in: Nuscheler, Franz/Otto Schmuck (Hg.), Die Süd-Politik der EG. Europas entwicklungspolitische Verantwortung in der veränderten Weltordnung, Bonn 1992.
(5) Vgl. Frankfurter Rundschau vom 15.02.1995.
(6) Ein Begriff Walter Benjamins; vgl. Helmut Thielen, Dialektik im Stillstand. Theologische Konstitution und historische Praxis in der Kritischen Theorie mit einem Schwerpunkt beim Denken Walter Benjamins. Erscheint 2001 in Brasilien und in Deutschland.
(7) In meinem Buch Theorie und Praxis. Essays über die Aktualität der Kritischen Theorie, dessen Veröffentlichung ich vorbereite, versuche ich, dieser Notwendigkeit gerecht zu werden.
(8) Die Verleugnung der Marxschen Theorie, die noch am ehesten wirtschaftliche Krisen zu erklären vermag, bis weit in sogenannte grüne und linke Kreise hinein, ist keine bloß akademische Frage, sondern hat eine höchst praktisch-politische Verbindung mit »post-modern« reaktionären Positionen, z.B. von Daniel Cohn-Bendit, Europaabgeordneter, und Joschka Fischer, Außenminister.
(9) Vgl. Thielen, Helmut, Das Kapitel Gulag, Kritik und Utopie. Aspekte des Utopieproblems, in: Ders., Diskurs und Widerstand. Philosophie der gesellschaftlichen Praxis, Bad Honnef und Unkel/Rh. 1995.
(10) Zur kritischen Analyse der neuzeitlichen Revolutionsgeschichte vgl. Peter Klein, Die Illusion von 1917, Bad Honnef und Unkel/Rh. 1993. Den Begriff des Jakobinismus benutzt Isaac Deutscher in seinen Schriften zur Russischen Revolution; vgl. Isaac Deutscher, Trotzki, 3 Bde., Stuttgart 1962/63 und ders., Stalin. Eine politische Biographie, Stuttgart 1962.
Der Fehler in der Analyse von Klein besteht darin, den utopischen Überschuß in den großen Revolutionen – jenseits des Kreislaufes der Herrschaft – als quantité négligable zu behandeln. Das mag in der Analyse noch angehen, trägt aber verhängnisvoll zur Blockierung der Praxis und eines sie begleitenden kritisch-solidarischen Bewußtseins bei, für das andere »Gesetze« gelten als für die reine theoretische Kritik des Bestehenden. Aber auch noch diese Kritik wird logisch unmöglich ohne den transzendenten Impuls zu solcher Praxis und ein ihn klärendes Bewußtsein. Die Reflexion dieses Impulses ist eine Aufgabe der Theologie. Nicht jeder, versteht sich, aber nur die Theologie ist dafür zuständig, einen »Ort« jenseits der negativen Totalität des Bestehenden Unheilszusammenhangs zu denken, der es ermöglicht, zunächst einmal »nur« theoretisch diese Negativität zu negieren, das heißt, zu kritisieren. »Alles andere [Bewußtsein] erschöpft sich in Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, S. 333.
(11) Funktionale Expansionsräume sind solche Regionen, die geographisch vom Kapitalismus schon durchdrungen sind, jedoch nicht hinsichtlich aller Segmente potentieller Märkte. Solche funktionalen Expansionsräume sind bis heute vor allem Westeuropa und die USA hinsichtlich der Ausbeutung der Sinnlichkeit und Begehrlichkeit der Kinder durch deren Transformation in Konsumwünsche und damit in ein Segment der Absatzmärkte. Vgl. Elmar Altvater, Sachzwang Weltmarkt. Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung – der Fall Brasilien, Hamburg 1987.
(12) Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, Frankfurt am Main 1980, S. 199.
(13) Auf die oberflächliche und betrügerische Ideologie, die 1999 Giddens, Blair und Schröder in die Welt gesetzt haben, kann hier nicht eingegangen werden. Das intellektuelle und politische Niveau dieser sozial gesofteten Variante des Neoliberalismus ist unter dem Strich, bis zu dem Kritik noch nützlich wäre – für uns. Der Einbruch in der Sympathie für diese Politiker beim Wahlvolk, das offensichtlich nicht so dumm ist wie etliche Leute meinen, hat praktisch über diesen »dritten Weg« schon das Urteil gesprochen. Und das ist sehr gut so!
(14) Vgl. für viele zu bedenkende Texte: Martin Buber, Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidelberg 1985. Peter Kropotkin, Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, Berlin 1976. Ders., Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Frankfurt am Main u.a. 1976. Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Wetzlar 1978. Ders., Beginnen. Aufsätze über Sozialismus, Aus dem Nachlaß hrsg. von Martin Buber, Wetzlar 1977.
Leo Tolstoi, Das Reich Gottes ist inwendig in euch, hrsg. von Paul A. Dörr, München 1996. Murray Bookchin, Die Ökologie der Freiheit, München/Basel 1985. Ders., Die Neugestaltung der Gesellschaft, Grafenau 1992. Eine glänzend geschriebene, spannende Einführung in den kreativen, neue Wirklichkeit schaffenden Anarchismus als Verbindung von Experimenten neuen Lebens mit der Subversion gegenüber Staat und Kapital gibt Horst Stowasser, Freiheit pur. Die Idee der Anarchie. Geschichte und Zukunft, Frankfurt am Main 1995.
(15) Der subversive Gehalt des vielzitierten und quietistisch – etwa wie die Theologie Karl Barths – mißverstandenen Adorno’schen Satzes, es gebe kein richtiges Leben im falschen (aus den Minima Moralia, 1962) ist gegen diese Mißverständnisse und gegen falsche Liebhaber zu verteidigen. Er meint ja nicht, man solle auf jeden Versuch, die Verhältnisse grundlegend zu ändern, verzichten, weil angeblich das negative Ergebnis unabhängig von der geschichtlichen Tat und a priori feststeht. Keine Analyse kann ein solches Feststehen der Unmöglichkeit der Praxis rein theoretisch und getrennt von praktischen Kämpfen feststellen, weil sie als Analyse der Herrschaftsverhältnisse logisch notwendig von den für verändernde Praxis entscheidenden Wirklichkeitselementen abstrahiert, die zugleich innerhalb wie außerhalb dieser Verhältnisse agieren. Daher hat sich eine »Kritische Theorie der Emanzipatorischen Praxis«, als deren vermitteltes wie vermittelndes Moment, mit dem Sachverhalt auseinander zu setzen, daß es richtiges Leben im falschen insofern nicht geben kann, als es nur in bedrohten Anfängen und Spuren existiert, als die kleinen »schwachen Chancen«, die »Elemente des Neuen, die tief in jede Gegenwart eingebettet sind« (Benjamin, 1976, S. 75), daß also jeder Änderungsversuch sich in einer jeweils historisch verschiedenen, konkreten, gegenwärtigen Dialektik von großer Gefahr und begrenzter Chance bewegt, die der Gegenstand einer angemessenen historisch konkreten »Kritischen Theorie der Emanzipatorischen Praxis« ist, über die Kritik des Bestehenden hinaus und als deren logische wie praktische Voraussetzung und Konsequenz. Die praktische Konsequenz aus dieser dialektischen Interpretation ist die gegenteilige zur Untätigkeit; ihr wird die immense Bedrohtheit der jeweiligen Chance zum zusätzlichen Motiv und Argument dafür, handelnd alles auf sie zu setzen, um so die»Tradition der Unterdrückten (…) zu stiften« (Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V, S. 593) und die Möglichkeit ihres Sieges in den geschichtlichen Kämpfen am Leben zu erhalten.
(16) Das Problem ist alt. Michail Bakunin hat es in seiner Auseinandersetzung mit Marx hervorgehoben: »Es ist eine alte Geschichte: Macht korrumpiert selbst die Intelligentesten und Hingebendsten.« Er fragt sich, »wie es zugeht, daß er [Marx] nicht sieht, daß die Errichtung einer universellen, kollektiven oder individuellen Diktatur, die gewißermaßen die Arbeit eines Chefingenieurs der Weltrevolution ausführt, (…) allein genügen würde, alle Volksbewegungen zu lähmen und zu verfälschen?« Welche »wagen es, sich zu schmeicheln, daß sie die ungeheure Menge von Interessen, Tendenzen und Handlungen, die in jedem Land, jeder Provinz, jeder Lokalität, jedem Beruf so verschieden sind und deren ungeheures Ensemble, vereinigt aber nicht gleichförmig gemacht durch eine große gemeinsame Aspiration und jetzt in das Bewußtsein der Macht die künftige soziale Revolution bildet – daß sie dieses ungeheure Ensemble auch nur umfassen und verstehen könnten?« Michail Aleksandrovic Bakunin an die Redaktion der »liberté« in Brüssel, Zürich, 5. Oktober 1872. Beide Zitate in: Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Gespräche mit Marx und Engels, Frankfurt am Main 1973.
(17) Über die vielfältige Welt der anarchistischen und kommunitären Projekte berichtet regelmäßig die Zeitschrift Contraste; für den theoretischen Kontext und die politische Aktion empfiehlt sich die Lektüre der graswurzelrevolution.
(18) »Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, noch nicht erkannt.« G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1970, S. 35.
(19) Der Begriff des Anderen wird hier im Sinne seiner Entfaltung in der Religionsphilosophie von Emmanuel Lévinas gebraucht. Seine Diskussion, ebenso wie diejenige seiner Rezeption in der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung, vor allem im den Arbeiten von Enrique Dussel, ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt. Vgl. für viele: Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München 1987; Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Hamburg 1989. Eine vorzügliche Einführung in das Werk von Dussel hat Hans Schelkshorn vorgelegt; Ders., Ethik der Befreiung, Wien 1992.
(20) Vgl. Die Aktion. Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst, Heft 137/144: »Land und Freiheit«. Berichte und Nachrichten zum Aufstand in Chiapas-Mexiko. Erklärungen der Zapatistas nebst Briefen des Subcomandante Marcos, Hamburg 1995; Topitas (Hg.), Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Hamburg 1994. Als Grundlagenstudie: Antonio García de León, Resisténcia e utopía, México D. F. 1985. Einige wenige Überlegungen, die Chiapas in einen weiteren theoretisch-politischen Kontext stellen, habe ich in die Diskussion gebracht; vgl. das Kapitel Jenseits von Kapital und Staat in diesem Buch. 30 Thesen zur Aktualität der Utopie nach dem Ende des »Realsozialismus« und angesichts der Krise des globalisierten Kapitalismus in: Zeitschrift für kritische Theorie 4 (1998) 6, S. 69-80.
(21) Adorno und Sartre, nicht oder – so kann auf diese notwendige Dialektik abkürzend verwiesen werden. Schritte der Vermittlung zwischen Sartre und der Kritischen Theorie haben vor einigen Jahren einige Teilnehmer des Frankfurter Sartre-Kongresses getan. Vgl. die Aufsätze von Herbert Schnädelbach, Axel Honneth, Alfred Schmidt und Frauke Brunkhorst, in: Traugott König (Hg.), Sartre. Ein Kongreß, Reinbek b. Hamburg 1988. Es gibt einen umfangreichen Essay, in dem Herbert Marcuse sich mit der Philosophie Sartres auseinandersetzt: Existentialismus. Bemerkungen zu Jean Paul Sartres L’être et le Néant, in Herbert Marcuse, Schriften Bd. 8, Frankfurt am Main 1984, S. 7-40.
Rezensionen
Neues Deutschland
graswurzelrevolution
Der Pazifist
Jenseits von Kapital und Staat – Helmut Thielen über „Utopie im Kleinen“
Armut verletzt Menschenwürde
Von Johnny Norden
Er gehört zu der sehr klein gewordenen Gruppe westdeutscher Akademiker aus der 68iger Bewegung, die der Mut zu radikalem Denken nicht verlassen hat: Helmut Thielen. Er hat sich als Autor zahlreicher Bücher und Artikel vor allem zur Philosophie der gesellschaftlichen Praxis und den Entwicklungsperspektiven der Länder des Südens profiliert. Stets bietet er spannende Beiträge zur Diskussion über eine nichtkapitalistische Welt, so auch im jüngsten Buch.
Thielen unterzieht die gegenwärtige Gesellschaft einer allseitigen und schonungslosen Kritik und kommt zu dem Schluss: „Die Marktwirtschaft ist keine Zivilgesellschaft, sie ist Gewalt. Sie ist nicht (mehr) reformierbar.“ Er bleibt nicht bei der Analyse, sondern sucht in der gesellschaftswissenschaftlichen Theorie und im Leben der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart Ansätze für eine neue Welt. Wie seine früheren Schriften ist auch dieses Buch ein flammendes Plädoyer für Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung.
„Armut ist der Inbegriff der Verletzungen der Menschenwürde“, betont Thielen. Seiner Ansicht nach ist die Befreiung der Menschen bis dato noch nie ernsthaft in Angriff genommen worden. „Die bisherigen Revolutionen von 1789 bis 1917 und darüber hinaus waren nur Umwälzungen innerhalb des Systems der Moderne, ein wahrer revolutionärer Prozeß steht noch aus.“ Thielen ist überzeugt, dass „die sozialistisch-kommunistisch-anarchistische Utopie der Befreiung gerade beginnt, eine aktuelle Aufgabe der Gegenwart zu sein“. Anschließend skizziert er seine Utopie. Sie habe zwar mit dem so genannten Reformismus ein schrittweises Vorgehen gemeinsam, aber widerspreche diesem durch den sofortigen Beginn des Aufbaus neuer Strukturen. Mit den bisherigen sozialistisch-kommunistisch legitimierten Revolutionen habe sie die Intention gemeinsam, eine freie und gerechte Gesellschaft aufzubauen, unterscheide sich jedoch von diesen wiederum darin, dass sie „den Vorrang einer politischen Machteroberung ablehnt“.
Thielen begeistern die Versuche der „realen Utopie im Kleinen“. Dazu gehören für ihn der Versuch zur Errichtung direkter Demokratie in Porto Alegre, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul. Ein anderes Beispiel gebendes Experiment ist für ihn die Landlosenbewegung „Sem Terra“, ebenfalls in Brasilien. Die Beschreibung dieser aktuellen „Utopien im Kleinen“ gehört zu den Stärken des Buchs. Der Autor lebt und arbeitet seit 1994 in Brasilien. Sachkundig beschreibt er die viele Millionen Menschen erfassenden sozialen Bewegungen, analysiert deren Erfahrungen im politischen Kampf. Einen prominenten Platz räumt Thielen in seiner Studie auch der zapatistischen Bewegung in Mexiko ein. Doch verweilt er nicht nur in den Ländern des Südens als Quelle revolutionärer Veränderungen. Von besonderem Interesse sind seine (leider zu kurz geratenen) Essays, in denen er sich auf die Suche nach den „neuen historischen Subjekten der Befreiung in der Weltgesellschaft“ begibt, die er innerhalb der traditionellen Arbeiterschichten, der hochqualifizierten Angestellten in Technik und Verwaltung sowie bei Freiberuflern findet.
Problematisch erscheint mir die von Thielen vorgenommene Gleichstellung von Kapitalismus und dem „realsozialistischen“ Versuch, der mit der Oktoberrevolution eingeleitet wurde. Auch bleibt seine Kritik an letzterem in allgemeinen Aussagen stecken. Thielen wirft dem „Realsozialismus“ die Negierung der Menschenwürde vor. Zwar sei diesem die Befreiung der Menschen von sozialer Not gelungen, was er eine wichtige Errungenschaft nennt, doch sei jene Leistung mit der „zugespitzten Demütigung durch die Staatsgewalt“ wieder negiert worden. Tiefer schürft er nicht. Schade, denn gerade der komplexe Zusammenhang von sozialer Gleichheit und Freiheit ist ein zentrales Thema der Utopieforschung. Dessen ungeachtet sei sein Buch wärmstens zur Lektüre empfohlen – vor allem jenen, die mit Thielen alternativen Gedanken und Politikkonzepten, die sich auch aus dem Anarchismus speisen, zugetan sind.
erschienen in: Neues Deutschland, 27. April 2001
Eine intellektuelle Gratwanderung . …
… jenseits von Kapital und Herrschaft
Für Helmut Thielen steht angesichts der gegenwärtigen „…Ökonomie des Todes, die der Neoliberalismus in Wirklichkeit ist…“ (83) die Frage eines Lebens in Würde, Gerechtigkeit und Freiheit ‚hier und jetzt‘ im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Sein Buch versteht sich als Abkehr von den halben und erlahmten Wegen des Sich-Einrichtens in den schön-geredeten Übeln des kapitalistischen Systems, die hinter den Fassaden dressierter Wahrnehmungs- und Kommunikationsraster verborgen liegen. Für Thielen offenbart sich hier das Janus-Gesicht des Schreckens einer Moderne, jenseits deren verhängnisvollen Zwangs-Strukturen ein würdevolles Leben trotz allem zu behaupten ist. Dass dies eine intellektuelle Gratwanderung zwischen Realität und Transzendenz ist, versteht sich von selbst.
Grundannahmen seiner Argumentation
Neoliberalismus und Globalisierung stellen für Thielen eine ‚Pseudo-Utopie‘ dar, in deren Zentrum „…die Rechtfertigung furchtbarster Menschen- und Natur-Opfer…“(85) zu finden seien.
Die Kategorie der Globalisierung erweist sich seines Erachtens als ideologische Maske, da die ‚Zivilisationskrise‘ (119), in die dieser Prozess eingebunden ist, dessen unterstellte Möglichkeiten zur Integration untergrabe und letztlich bedinge, dass sich eine globale Rahmensteuerung angesichts eines „…irren Amoklauf[s] des Kapital[s]…“ (10) als unmöglich erweise. Ein Anzeichen dieser Krise sei das Vorantreiben der Verarmungsprozesse erdweit. In dieser Einschätzung trifft er sich mit den Ausführungen von Pierre Bourdieu und anderen Globalisierungs-KritikerInnen (John R. Saul, Viviane Forrester u.a.) zu dieser Frage.
Ein weiteres Segment der Zuspitzung der Krise ist für Thielen die Nutzung der militärischen Option zur Führung neuartiger „Kontroll- und Verteilungskriege“(12), zu deren Etablierung der Irak- und der Balkankrieg die ersten Etappen gewesen sein könnten. In diesem Zusammenhang verweist er auf die sich diametral gegenüberstehenden Existenzinteressen von indigenen Kulturen bzw. regional verwurzelten Bevölkerungen und den global operierenden Kapitalmechanismen. (12/13) Ob es allerdings in diesem Kontext Sinn macht, neue Gesetzmäßigkeiten eines Global-Kapitalismus zu formulieren (vgl. S. 16) bleibt zu bezweifeln, da sich hier eher Balance-Verschiebungen in den Erscheinungsformen eines Systems anzeigen dürften als grundsätzlich neue Strukturgesetzlichkeiten.
Für Thielen hat die moderne Welt vier „…große formal rationale Strukturen der Unfreiheit und damit der Würdelosigkeit und der Armut …“(33) hervorgebracht: – die Transformation der Natur in ein technisches Mittel für die Produktion; – die Transformation des Menschen in einen Automaten abstrakter Arbeit; – die Transformation des Menschen in ein Objekt der Staatsgewalten; – die Verinnerlichung der Entfremdung durch Selbst-Unterwerfung. Die Gemeinsamkeit dieser vier Strukturzwänge sieht Thielen in der Verneinung der qualitativen inneren Zweckhaftigkeit des menschlichen Individuums und der Natur und damit ihre Verwandlung in bloße Mittel für jeweils anderes.
In Anlehnung an Raul Fornet-Betancourt stellt Thielen die Ideologie von der Masse und die Fragwürdigkeit einer Konzeption, die das Volk – oder auch das Proletariat – „…zur Kategorie des Ortes und der Quelle des Menschlichen in seinem höchsten Sinne…“(54) überhebt, in Frage. Damit ist dieses vermeintliche revolutionäre-anonyme Subjekt zwar nicht aus dem Blick geraten, aber es konkretisiert sich unter dem Fokus eines Auflehnens für die Würde, Gerechtigkeit und Freiheit des Menschen, vor allem der Ausgegrenzten und ‚Verdammten‘ dieser Erde, auf das konkrete Individuum und seine Nöte als eines emanzipatorischen Subjektes des ‚hier und jetzt‘.
Hierzu sei auf einzelne zentrale Stichpunkte seiner Argumentation, die hier nicht weiter verfolgt werden können, hingewiesen: – die Pervertierung der Persönlichkeit in der kommerziellen und auf Hierarchie und Ausbeutung angelegten bürgerlichen Welt (79); – der Gewaltcharakter der wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte der kapitalistischen Produktionsverhältnisse (185); – die Notwendigkeit der Entwicklung einer authentischen Utopie im ‚hier und jetzt‘, angesichts eines apokalyptischen Taumels der Zerstörung (81 ff.,. 172); – die Erfahrung der religiösen Transzendenz als ideeller Kern der Freiheitsbewegung (77, 171 f.); – die Versöhnung mit der Natur (passim, u.a. 220).
Der Band enthält insgesamt acht gleichwertige Kapitel, die um die Themenblöcke Menschenwürde, Neokapitalismus, kritisch-praktische Ethik, verschüttete emanzipative Traditionen und neue Wege sowie diese lebendige ‚Wüste‘ angelegt sind, wobei sich der Begriff der Wüste bei Thielen vorwiegend aus einer religiösen Symbolik erschließen dürfte, als Belebung scheinbar toter Erde, als eine Art Paradies in vermeintlicher Erde. Desweiteren dokumentiert der Band im Anhang ein Gespräch mit Sartre über Anarchie und Moral aus dem Jahr 1979, die Vorstellung von zwei für Thielens Thesen ergiebigen Intellektuellen aus Brasilien: Leonardo Boff, als Vertreter der Theologie der Befreiung und Tenso Genro als Quelle für die Erneuerung des sozialistischen Projekts. Den Abschluss bildet der Entwurf eines Projektes für eine eingreifende Publizistik auf Basis einer Kritischen Theorie der Emanzipatorischen Praxis.
Die Quellen, auf die Thielen zurückgreift
Thielen stützt seine Überlegungen in erster Linie auf drei Quellenstränge:
1. Im philosophischen Strang reflektiert Thielen seine Studien bei Horkheimer, Adorno und Marcuse. Seine Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie ist aufschlussreich, insbesondere Walter Benjamin bietet sich als authentische Quelle für Thielens Vorhaben an.
2. Der theologische Strang: der Religiöse Sozialismus um Leonhard Ragaz, Paul Tillich und Karl Barth sowie die Theologie der Befreiung, Leonardo Boff u.a.. Die religiösen Spuren in Thielens Buch sind originär mit seinen eigenen Gedanken verbunden und wirken keineswegs aufgesetzt oder als Bruch in der Argumentation, wie so mancher Rekurs auf die Frankfurter Schule.
3. Die indigene Kultur-Praxis und Reflexion, vor allem von Bewegungen in Brasilien (Landlosenbewegung) und Mexiko (Zapatistas).
Auffällig ist, dass er nicht auf Simone Weil (ihrem Denken zur Entscheidung sowie ihrer religiösen Orientierung) und auf Pascal (im Zusammenhang mit dem Zweck-Mittel-Paradigma) sowie Schelling (vor allem seine Subjekt- und Natur-Philosophie) zurückgegriffen hat, die hier möglicherweise wesentlich fruchtbarer gewesen wären als so mancher Hinweis auf Überlegungen aus dem Umfeld der Kritischen Theorie.
Thielens Befreiungsprojekt zum ethischen Leben
Thielen begreift – und dies verbindet sein Denken mit allen originär nicht-bürgerlichen Emanzipationsbewegungen seit dem 19. Jahrhundert – die bürgerliche Welt als Passage: „Es gab […] ein Leben vor und es gibt daher auch ein Leben nach dieser Ökonomie und Politik des Todes.“ (21) Was seiner Meinung nach den heutigen ‚Aufstand‘ der Menschen in die Zukunft wesentlich begründet, ist die Zurückeroberung einer humanen Würde, die das bürgerlich-kapitalistische System unter dem Terror von Zwängen und Korrumpierungen begraben hat. Authentische menschliche Würde basiert für ihn auf grundständiger persönlicher Autonomie, auf einer freien Selbstbestimmung, die sich die Entfaltung der individuellen Gaben zur Aufgabe setzt und in ihrer Verwirklichung eine sich selbst verantwortete innere Zweckhaftigkeit der Existenz hervorbringt, die sich jedem Versuch widersetzt, als Mittel für anderes benutzt zu werden. Diese Würde wächst für Thielen aus den inneren Potentialen des Menschen und nicht im mindesten aus den dinglichen und medialen Warenangeboten der kommerziellen bürgerlichen Welt. (28 ff; zum Zweck-Mittel-Paradigma vgl. u.a. S. 99) Auf diesen Überlegungen gründet sich auch seine Unterscheidung von wahrem und falschen Reichtum, der auf Herrschaft und auf der Armut anderer basiert. (30)
Gegen alle philosophischen oder politischen Modelle, die „…Kompromisse mit dem schlechten Bestehenden…“ (95) eingehen, verweist Thielen auf die existentielle Unausweichlichkeit eines authentisch würdevollen Lebens „…in jedem Augenblick einer jeden Gegenwart …“(193), das sich auf Gott als das „…ganz Andere…“ (Karl Barth) beruft, als einem Geistigen und Transzendenten gegenüber allem bloß irdischen Wollen und Begehren. Auf dieser Transzendenz-Gründung jeden Lebens und auf das fortwährende ‚hier und jetzt‘ jeder subjektiven Entscheidung über authentisches oder eben an fremde Strukturen verlorenes Leben basiert Thielens Würde- und Freiheits-Postulat. Das Individuum hat die existentielle Pflicht, sich nicht fremdbestimmen, sich nicht als Mittel für fremde Zwecke missbrauchen zu lassen. An dieser Stelle seiner Überlegungen grundradikalisieren sich seine Begründungen und verweisen auf das Bild von Jesus: Subjekt eines authentischen, freien, würdevollen Lebens in Liebe zu seinen Mitmenschen und Mitlebewesen zu sein, gegen alle diesen Anspruch untergrabende Zwangs-Strukturen jeder Gegenwart. Diese christlich-ethische Radikalität behauptet Thielen gegen die Quellen aus der Geschichte des Christentums, die sich in der schlechten Realität einzurichten versuchen (vgl. Jesus-Paulus-Peripetie; 149 ff.) Aus dieser Verantwortung jedes Menschen vor sich selbst und dem der Transzendenz des ‚ganz Anderen‘, aus dem es sich verdankt, rettet seiner Meinung nach auch nicht das in seine eigenen Fesseln verstrickte Konstrukt der strukturellen Sachzwänge, die zweifellos mächtig sind, „…aber niemals absolut…“ (115)
Wenn Thielen gegen ein negativ verstandenes Utopie-Verständnis, das deren Unrealisierbarkeit stillschweigend unterstellt, die ‚Erlösung‘ des Religionsphilosophen Franz Rosenzweig hält, die „…immer schon beginnt als Vergegenwärtigung der Zukunft im Hier und Jetzt …“ (293; Anm. 78), so führt dies in den Kern seiner Ausführungen, deren Blickfeld sich allerdings zugleich kritisch umkehrt, um zu erkennen, „…warum die Welt, die jetzt, hier das Paradies sein könnte, morgen zur Hölle werden kann.“ (Adorno; zitiert auf S. 302)
Statt einer streckenweise konstruiert wirkenden Auseinandersetzung mit der Debatte über Verantwortungs- und Gesinnungsethik (Max Weber) sowie der Diskursethik (Apel und Habermas; einer „Variante der Verantwortungsethik“ (104)), hätte man sich einen Exkurs über die Möglichkeit und Problematik indigener Ethik in der Gegenwart gewünscht, was auch Thielens eigenem Anspruch viel näher gelegen hätte: „Ethik wird zur Wirklichkeit in der Verwirklichung konkreter Utopien.“ (102) Auch wenn an manchen Stellen Spuren zu einem Ansatz indigener Ethik erkennbar werden (z.B. Maya-Indios versus Kapital-Strategien beim Eingriff in die Erde; S. 13), sucht man einen systematischen Ansatz hierzu leider vergeblich. Möglicherweise wäre dann Thielens Anspruch an praktischer Realisierung ethischer Prämissen kritischer ausgefallen. Ethik ist für Thielen ein unmittelbar praktisches Gestaltungsprinzip von Welt. Seine Ausführungen zur „Ethisierung der Wirklichkeit“ (104) sind als individuelle Leitschnur sehr sympathisch, als reales Kollektiv-Projekt jedoch kritisch zu beleuchten. Der Widerstand indigener Kulturen gegen die bürgerliche Welt z.B. ist nur zum Teil aus der Überwindung von Moderne, zum anderen aber vor allem der Bewahrung einer vor-modernen Lebensweise zu verstehen. Sie stellt jedoch nicht nur die Vergangenheit der bürgerlichen Welt dar, sondern weist durchaus über die bürgerliche Welt in eine Zukunft hinaus, die schon immer begonnen hat. Indigene Ethik ist daher etwas ganz anderes als bürgerliche oder in der Moderne gegen die bürgerliche Welt entworfene Ethik. Hierzu hätte man sich eine intensivere Auseinandersetzung gewünscht, zumal sie sich dem Stoff von Thielens Buch angeboten hätte.
Zentrale und weiterführende Themenstränge
Mehrere Themenstränge, die sich systematisch durch Thielens Arbeit ziehen, enthalten wichtige Anregungen zur Weiterführung der Debatte um die Überwindung von bürgerlicher Welt:
1. Die ‚Logik der Ökonomie‘ „…kann nicht mehr als ein Verbündeter angesehen werden für den Sozialismus, sondern muß heute überwiegend begriffen werden als eine Brutstätte der Barbarei, wie das in ihrer Zeit Rosa Luxemburg gesagt hatte.“ (341)
2. Das abendländische Modell von Naturwissenschaft, Technik und Industrie ist selbst ein wesentlicher Teil der zivilisatorischen Krisis, weil es eine zentrale Bedingung des Projekts der modernen Herrschaft ist. Es war und ist bürgerliche wie marxistische Fortschrittsideologie, anzunehmen, dass dieses Modell „…neutrale Mittel…“ (186; vgl auch 190) für das emanzipative Projekt der Menschheit bereitstelle.
3. Es geht heute darum, von einer politisch-militärischen Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System zu einer fundamental-kulturellen, ethisch-geistigen Auseinandersetzung überzugehen, die sich tief in die Kulturgeschichte, die durch das kapitalistische System ihrer Wurzeln beraubt wurde und wird, zurückverwurzelt. (vgl. 169)
4. Was der Mensch eigentlich auf seinem Lebensweg erstreben sollte, das findet sich allesamt jenseits der gigantomanischen ökonomisch-bürokratischen Produktions- und Verwaltungsapparate der Moderne: Frieden, Güte, Ruhe, Stille, Genuss, Freude, Schönheit, kultivierte Erotik, Liebe. Das sind diese schönsten Dinge, die umsonst sind (Baudelaire) und deren Tod der bürgerliche Kommerz- und Herrschaftsapparat ist. (vgl. 298)
5. In diesem letzten Punkt sei mit den Worten des Autors zugleich eine Art Resümee eines Buches gezogen, zu dessen lesender Auseinandersetzung diese Besprechung unbedingt auffordern möchte: „Die Revolutionen haben sich auch selber von innen her zerstört, weil die Klassen und Völker und ihre Avantgarden zu wenig Liebe zu den Menschen und zuviel diabolischen Geschmack an der Macht hatten. Bei Strafe der zwanghaften Wiederholung von Gewalt, Macht und Herrschaft, ohne ein Entrinnen, muß damit jetzt Schluß sein – so vollständig wie endgültig.“ (273)
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erschienen in: graswurzelrevolution, Nr. 260, Sommer 2001
Helmut Thielen: Die Wüste lebt. Jenseits von Kapital und Staat
von B. Büscher
Allein die Verlagsinformationen über den Autor Helmut Thielen lassen aufhorchen: Ein deutscher Professor, der in Brasilien lebt und lehrt und der, von der Kritischen Theorie herkommend, lateinamerikanische Philosophie und Theologie der Befreiung, anarchistische Ansätze, Gewaltlosigkeit und utopisches Denken kritisch integriert
Thielens Ausgangspunkt ist seine Kritik des weltweit wuchernden und alles durchdringenden Kapitalismus – der gängige Begriff „Globalisierung“ beschreibt nur ungenau dieses „wüste Durcheinander von Interessengegensätzen, Konkurrenz, ökonomischen, politischen und militärischen Kämpfen, Krisen, Zusammenbrüchen, leichten Erholungen, neuen Krisen etc., dem wirklich jede Vernunft abgeht, das heißt ein positiver Bezug auf humanistische Werte.“ (S. 10) Zur Analyse und zum Verständnis der neoliberalen „neuen Weltordnung“ bleibt der Rückgriff auf die Theorien von Karl Marx – gerade nach dem Zusammenbruch des sogenannten Realsozialismus und der damit einhergehenden Diskreditierung marxistischer Theorie – unerläßlich. Thielen meint den „ganzen Marx“, der im „Kapital“ auf tiefgehende und präzise Weise die Wurzeln jeglichen wirtschaftlichen Systems, das auf dem Klassengegensatz von Kapital und Arbeit und damit auf Ausbeutung basiert, freigelegt hat, und nicht allein den „humanistischen“ Marx der Frühschriften.
Als Alternative zum neoliberalen Kapitalismus sucht der Autor nach einem neuen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, „jenseits von Lenin und Bernstein“, von realsozialistischer und sozialdemokratischer Umsetzung marxscher Ideen also: er sucht einen „dritten Weg“, wobei er sich kritisch von anderen Verwendungen des Begriffs (z.B. durch Anthony Giddens, dem Theoretiker hinter dem Schröder/Blair-Papier) absetzt. Bemerkenswert für einen durch die Kritische Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses geprägten Denker spielt bei Thielen die Utopie eine zentrale Rolle. Unter Einbeziehung der Marx- und Leninkritik Martin Bubers und Gustav Landauers gelangt er zu rätedemokratischen und anarchistischen Modellen einer neuen Gesellschaft. Im Interesse der Opfer des neoliberalen Kapitalismus, deren Zahl täglich anwächst, muß und kann die Umwandlung der Gesellschaft bald, möglichst sofort geschehen. Hoffnungszeichen für eine kommende Veränderung sind die massiven Proteste bei den internationalen Zusammenkünften der wirtschaftlichen und politischen Spitzen (Seattle), kommunitäre, oft christliche Gruppen, die neues Zusammenleben und -arbeiten im Kleinen vorwegnehmen sowie Widerstandsbewegungen der „Dritten Welt“ wie die Zapatisten in Mexico und die Bewegung der Landlosen in Brasilien. Gerade die letztgenannten, die Thielen aus eigener Kenntnis heraus ausführlich vorstellt, haben eine neue Qualität des Widerstands entwickelt. Herrschte in Lateinamerika bisher in Theologie und Theorie der Befreiung eine Akzeptanz des Nebeneinanders von bewaffnetem und friedlichem Kampf vor, so ist jetzt eine Kritik der Waffen notwendig. Dabei hat das religiöse oder ethische Moment seinen Wert; entscheidend aber sind rationale Argumente – ein bewaffneter Aufstand muß heute der Vormacht des Staates unterliegen, und alle bisherigen gewaltsamen Umstürze haben die Revolutionäre zur Errichtung autoritärer, diktatorischer Strukturen gezwungen. Im lateinamerikanischen Kontext sieht Thielen diese neue Qualität der Befreiung durch den verstorbenen Helder Camara und Leonardo Boff verkörpert.
Die Kapitel des Buches sind essaymäßig verfaßt und können einzeln gelesen werden. Wer – wie der Rezensent – mit der Terminologie der politischen Ökonomie und der Kritischen Theorie nicht oder nur wenig vertraut ist, wird sich durch einige Passagen mühsam hindurcharbeiten müssen. Diese Mühe lohnt sich. Das letzte Kapitel des Buches endet mit den schönen Worten: „‚Die Post-Moderne‘ hat das Ende der häßlichen, dogmatischen und korrupten Linken mit sich gebracht. Aber es ist schon die Zeit gekommen für eine schöne, kultivierte, kreative, aufrichtige und konsequente Linke. Eine solche Linke wird ihre Chance haben und wirklichen, die Menschen anzuziehen und zu überzeugen.“ Helmut Thielens leidenschaftliches Plädoyer für eine Gesellschaft jenseits von Kapital und Staat wirkt anziehend und überzeugend, macht Lust auf Dialog und Diskussion.
erschienen in: Der Pazifist, Hefte für Völkerrecht und Arbeit für den Frieden, Nr. 5/161, 25. Mai 2001