anarchismus

„Ich träume noch immer von der Revolution“

Ein GWR-Interview mit Ilse Schwipper

| Interview: Bernd Drücke

Ilse Schwipper (geb. 1937) wurde im Juni 1971 erstmals wegen militanten Aktionen gegen den Vietnam-Krieg verhaftet. Bis Ende 1973 saß sie in Isolationshaft in Vechta. Nach der Haftentlassung wurde sie im August 1974 erneut inhaftiert. Ihr wurde die Beteiligung an der Ermordung des Berliner Verfassungsschutz-Mitarbeiters Ullrich Schmücker durch das Kommando 'Schwarzer Juni' aus der 'Bewegung 2. Juni' unterstellt. Nach 17 Jahren endete der 'Schmücker-Prozeß' im Januar 1991 mit einer Verfahrenseinstellung, die im November 1991 rechtskräftig wurde. Insgesamt hat Ilse Schwipper 7 3/4 Jahre wegen dieser Anklage in Untersuchungshaft gesessen. Im Mai 1982 wurde sie wegen Haftunfähigkeit vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Heute lebt sie in Berlin und arbeitet hauptsächlich in anarcha-feministischen Zusammenhängen. Sie ist Mitautorin des Buches "Bei lebendigem Leib. Von Stammheim zu den F-Typ-Zellen. Gefängnissystem und Gefangenenwiderstand in der Türkei" (siehe Artikel auf Seite 7).

Graswurzelrevolution (GWR): Sie sind 1969 als 32jährige in die SPD eingetreten. Anfang 1970 hat die SPD Sie wegen „parteischädigendem Verhalten“ ausgeschlossen. Wie kam es dazu und was war mit „parteischädigendem Verhalten“ gemeint?

Ilse Schwipper: In Niedersachsen gab es im Frühjahr 1970 Landtagswahlen, an denen die DKP teilnehmen wollte. Um das zu können, brauchten sie 40.000

Unterschriften. Jungsozialisten aus Wolfsburg, u.a. ich, haben diese Unterschriften gesammelt. Für die „Mutterpartei SPD“ war das Anlass genug, trotz ihrer Propaganda „mehr Demokratie wagen“ 19 Jusos auszuschließen wegen parteischädigenden Verhalten. Für meine Begriffe war das aber einzig ein Vorwand, weil die Wolfsburger Jungsozialisten, deren zweite Vorsitzende ich war, für die damalige Zeit sehr revolutionär agierte.

GWR: Anfang der 70er Jahre beteiligten Sie sich an militanten Aktionen der „Bewegung 2. Juni“. Wie erklären Sie sich Ihre damalige Entwicklung von der „Sozialdemokratin“ zur Stadtguerillera? Können Sie diese Entwicklung skizzieren?

Ilse Schwipper: Die Frage ist nicht ganz richtig. Zu dem Zeitpunkt haben Wolfsburger das Konzept Stadtguerilla diskutiert, waren aber nie an Aktionen der Bewegung 2. Juni beteiligt. Die Wolfsburger waren eine eigenständige Gruppe, die in der K3 lebten (später Bäckergasse 2). Unsere Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Konzepten beinhalteten allerdings eine Nähe eher zur Bewegung 2. Juni als zur RAF. Einzelne Aktionen aufzuzählen, die damals von der Gruppe gemacht wurden, halte ich für unangebracht.

Ich war nie Sozialdemokratin. Von meiner familiären Geschichte her, war ich Anarchistin. Repressive Erfahrungen nicht nur mit der SPD sondern auch mit Polizei und dem was staatliche Institutionen generell ausmachen, haben mich immer radikaler werden lassen.

GWR: 1977 sorgte ein Artikel des Göttinger „Mescalero“, in dem er sich aus libertärer Sicht kritisch mit der Politik des Staates und der Stadtguerilla auseinander setzte, für Aufsehen. In dem 1977er Graswurzelrevolution-Positionspapier „Feldzüge für ein sauberes Deutschland“ (siehe: www.graswurzel.net) ging es im Anschluss an eine gewaltfrei-anarchistische Kritik sowohl der staatlichen Gewalt als auch der RAF-Politik um die Begründung direkter gewaltfreier Aktionen. Wie wurde die Kritik des Mescalero und anderer gewaltfreier AnarchistInnen damals von den Stadtguerillas aufgenommen? Gab es dazu Diskussionen?

Ilse Schwipper: Das Graswurzelpapier ist nicht bis zu mir vorgedrungen, wobei ich nicht weiß, ob es zu den damals oftmals beschlagnahmten Dingen gehörte. Ob andere Gefangene an dem Papier diskutiert haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings konnte ich dem Mescalero-Papier nicht sehr viel abgewinnen, da ich es von Hause aus albern finde, sich klammheimlich zu freuen. Ähnlich geht es mir bei Diskussionen zur Frage der Gewalt oder Gewaltfreiheit, weil ich denke, dass andere Diskussionen in einer global repressiven Welt voller Kriege wichtiger sind.

GWR: Wie sehen Sie die Politik der Stadtguerilla aus heutiger Perspektive?

Ilse Schwipper: Im Rückblick und an Hand der Tatsache, dass ich eine relative Geschichtsaufarbeitung hinter mir habe, kann ich nur sagen, dass die Politik der Stadtguerilla eine richtige war. Zumal sich die gesamte amnestierte Studentenschaft auf Karrieretrip begab. Stadtguerilla war weltweit der Versuch, ein gerechtes, menschenwürdiges Gesellschaftsgefüge zu beginnen. Dass die Niederlage so bitter sein würde, konnte zum damaligen Zeitpunkt niemand ahnen. Für die Einzelnen war es nicht nur eine wichtige Erfahrung sondern mit dem Versuch, das Private zum Politischen zu machen gesellschaftliche Verhältnisse revolutionär zu verändern.

Der Slogan der Musikgruppe Ton-Steine-Scherben: ‚Macht kaputt, was Euch kaputt macht‘ wurde sehr ernst genommen.

GWR: Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass im „Rechtsstaat“ Bundesrepublik Menschen (durch Isolation) gefoltert wurden und werden. Wie haben Sie Ihre eigene Isolation erlebt? Unter welchen Bedingungen waren Sie inhaftiert?

Ilse Schwipper: Es ist schwierig, in einem Interview darauf ausführlich zu antworten. Bevor ich es versuche, gleich eine Buchempfehlung, in dem es ausführlich um die Entwicklung von Isolationshaft – besser bekannt als weiße Folter – geht. Der Titel: „Bei lebendigem Leib“, erschienen im Unrast-Verlag.

Meine Haftbedingungen waren von insgesamt fast 12 Jahren 6,5 Jahre Isolationshaft mit allen Merkmalen der Weißen Folter.

Stündliche Nachtkontrollen (ist Schlafentzug), Fliegengitter vor dem Normalgitter (zu wenig Sauerstoffaustausch), ständige Kontrollen und Zellenwechsel (Stress – Orientierungslosigkeit – nie heimisch werden), nirgendwo teilnehmen, also Ausschluss vom Anstaltsleben (Reizentzug), Trennung von jeglichen Gemeinschaftsveranstaltungen, Arbeitsverbot, Berührungsverbot bei Besuchen, häufiger Zellenwechsel, tägliche Zellendurchsuchungen und überfallartige nächtliche „Besuche“ vom Staatsschutz. Außerdem bei jedem Zellenverlassen gründliche körperliche Durchsuchung. Schikanöse Postzensur und vielfache Nichtaushändigung von Publikationen. Was auch eine Rolle spielt, ist der Farbanstrich der Zellen. Das ist ein nicht definierbares gelb/weiß. Die Möbel sind nur um Nuancen dunkler, was über Jahre bedeutet, dass klare Konturen im Blick (Auge) verschwinden.

Die Auswirkungen grundsätzlich sind: Erschöpfungszustände, Depressionen, Venenerkrankungen, Kreislaufprobleme, Magen-Darmprobleme, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwächen und Gedächtnisausfall – Tinitus.

Diese Haftbedingungen haben zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen geführt, so dass ich am 2.Mai um 15.15 Uhr, 1982 schwerkrank als haftunfähig entlassen wurde. Bis zum heutigen Tag habe ich oft mit den Spätfolgen zu kämpfen.

GWR: In Stammheim und anderen Isolationsgefängnissen sitzen immer noch politische Gefangene. Wie ist ihre Situation heute?

Ilse Schwipper: So weit mir das bekannt ist, sind die Bedingungen im Großen und Ganzen nicht geändert. Bei einzelnen Gefangenen hat es geringfügige Haftverbesserungen gegeben, die aber meiner Meinung nach an der Gesamtrepression wenig ändern. Die Gefangenen sollten bedingungslos freigelassen werden. Das aber gilt für alle revolutionären Gefangenen weltweit.

GWR: Am 20. Oktober 2000 sind ca. 2.000 politische Gefangene in türkischen Gefängnissen in einen Hungerstreik getreten. Sie wehren sich gegen die Verlegung in neugebaute F-Typ-Isolationsgefängnisse, in denen sie der Willkür der Wärter ausgesetzt sind und unter der weißen Folter leiden. Nachdem ihre Forderungen nicht gehört wurden, wandelten sie ihren Hungerstreik in ein „Todesfasten“ um. Diese Verweigerung der Nahrung forderte inzwischen mehr als 90 Opfer.

Wie erklären Sie Sich, dass sich nur wenige Menschen in der Türkei und in Europa mit den Gefangenen solidarisieren?

Ilse Schwipper: Abgesehen von der Tatsache, dass vielen Menschen solch konsequenter Kampf Angst macht, gibt es zur Zeit keine revolutionäre Gefangenenbewegung, die diesen Kampf unterstützten könnte. Einzelne Gruppen und Einzelpersonen, die auf verschiedene Arten den Kampf unterstützt haben und auch heute noch unterstützen, haben es seit dem 11. September 2001 nicht einfach. Vielfach wird dieses Todesfasten mit Selbstmordaktionen gleichgesetzt. Übersehen wird dabei, dass es einzig und alleine an den jeweiligen Regierungen liegt, wie mit Gefangenen umgegangen wird. Zum anderen ist es auch eine Tatsache, dass sich europaweit die „Linke“ anderen Themen zuwendet, wie z.B. dem globalisierten Turbokapitalismus ohne zu begreifen, dass Inhaftierungen jeder Zeit unter genau diesen Weiße Folter-Bedingungen für jeden möglich sind. (Siehe Seattle, Göteborg, Genua).

GWR: Wie lässt sich gegen die Isolationsfolter eine Kampagne organisieren?

Ilse Schwipper: Eigentlich wie jede Kampagne über sämtliche linke Medien Öffentlichkeit herstellen, unter Einbezug auch der bürgerlichen Medien. Tatsache ist aber, dass dieser Kampf der türkischen Gefangenen weitgehend totgeschwiegen wird.

Es hat ja nicht nur einen Kongress organisiert von Tayad (Verein der Angehörigen von politischen Gefangenen) gegeben, sondern häufiger Delegationen

zum Schutz der Angehörigen, die sich ebenfalls im Hungerstreik und Todesfasten befanden und befinden. Auch die internationalen Delegationen konnten keine relevante Bewegung initiieren. In Berlin, Hamburg und

Köln hat es Ende 2001 auf öffentlichen Plätzen Solidaritätshungerstreiks und Veranstaltungen gegeben, die ebenfalls keine Massenbewegung hervorbrachten. Bis heute weigert sich die türkische Regierung die Isolationsgefängnisse nach dem deutschen Modell abzuschaffen. Nicht einmal die Minimalforderung des Zusammenschlusses einzelner Gefangener untereinander ist verwirklicht.

GWR: Das Buch „Bei lebendigem Leib“ will „mit dazu beitragen, dass die Frage von politischer Gefangenschaft und Solidarität in der Linken wieder diskutiert wird.“ Ihr Artikel ist bewegend und beschreibt „Das Isolationszellensystem als wissenschaftliches Forschungsprojekt“. Was ist Ihnen besonders wichtig?

Ilse Schwipper: Mir ist wichtig, dass wieder ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, dass Isolationsgefängnisse mit der Methode Weiße Folter ein Mittel der Bekämpfung des politischen Gegners ist.

Mir ist wichtig, dass heute kämpfende Menschen eine realistische Einschätzung der Situation weltweit behalten. Mir ist wichtig, dass sich wieder mehr internationale Solidarität entwickelt, und die Grabenkämpfe unter den Linken aufhören.

GWR: Viele einst politisch engagierte Menschen haben resigniert, sich angepasst und entpolitisiert. Sie machen dagegen einen engagierten und hoffnungsvollen Eindruck. Welche politischen Perspektiven sehen Sie?

Ilse Schwipper: Ich träume noch immer von der Revolution.

Anmerkungen

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Zum Thema siehe auch nebenstehenden Artikel: "Warum schweigen die Linken?"