"Wir sind Kriegsgewinnler"
Bernd Drücke, Redakteur der »Graswurzelrevolution«
Den Schwarzen Faden gibt es nicht mehr. Dem Anarchiemännchen mit der Bombe in der Hand begegnet man nur noch höchst selten. Das eingekreiste A auf den Häuserwänden verblasst mehr und mehr. Aber die anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution (www.graswurzel.net) feiert am Wochenende in Könnern ihr 35jähriges Bestehen. Bernd Drücke ist hauptverantwortlicher Koordinationsredakteur der Zeitung und hat über anarchistische Presse in Ost- und Westdeutschland promoviert.
35 Jahre Graswurzelrevolution (GWR). Warum sollte man einer Zeitung über 30 trauen?
Weil die GWR immer noch eine Bewegungszeitung ist, ein Sprachrohr für Gruppen, die ansonsten kaum gehört werden, also antimilitaristische, pazifistische, anarchistische, feministische. Es gibt eine kritische Studie über die Kriegsberichterstattung während des Kosovo-Kriegs 1999, in der die GWR von allen linken Zeitungen am besten abgeschnitten hat, weil sie als einzige die sozialen Bewegungen aus Jugoslawien hat zu Wort kommen lassen. Außerdem sind wir Kriegsgewinnler. Die Auflage der GWR steigt immer dann, wenn es Kriege gibt. Auf uns ist also Verlass.
Ihr habt konsequent sowohl den »war on terror« als auch den terroristischen und repressiven Islamismus kritisiert. Wie verhaltet ihr euch aber beispielsweise gegenüber Frauenorganisationen aus Kabul, die die Präsenz der internationalen Truppen begrüßen, weil diese derzeit die einzigen sind, die ansatzweise Schutz vor gewalttätigen Übergriffen bieten?
Gruppen wie die afghanischen Feministinnen von »Rawa« haben wir unterstützt, auch weil sie gegen die Bombardierung waren. Aber man kann Feuer nicht mit Benzin löschen, das machen die Nato und alle Militärstaaten der Welt. Man kann die Situation nicht aus einer militärischen Perspektive betrachten, sondern muss sich mit den Leuten solidarisieren, die gewaltfreien Widerstand von unten leisten.
Aber Organisationen wie der afghanische Frauenverein sind doch Leute von unten. Und auch die Frauen von »Rawa« fordern mehr internationale Truppen, die die lokalen Warlords entwaffnen.
Auf diese vermeintlich realpolitische Ebene will ich mich nicht einlassen. Grundsätzlich unterstützen wir antimilitaristische und pazifistische Gruppen. Was im Irak oder in Afghanistan passiert, ist ein Desaster. Seit dem Einmarsch der Sowjets herrscht dort ein Dauerkriegszustand. Unter solchen Bedingungen kann keine menschengerechte Gesellschaft entstehen. Das ist eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Warlords, und eine Fraktion ist gerade an der Macht. Das sind Verbrecher, die andere Menschen vor Panzer gebunden und zu Tode geschleift haben. Als Anarchist muss ich sagen, wer herrscht, muss bekämpft werden. Wir schlagen uns nicht auf die Seite einer Verbrecherorganisation. Nato und Taliban sind terroristische Vereinigungen, und die gilt es durch eine Politik von unten zu bekämpfen.
Gewaltfreiheit ist nicht bei allen Anarchisten ein grundlegendes Element. Warum ist das bei euch so?
Das hat historische Gründe. Die GWR hat sich 1972 gegründet. Damals wurde Anarchie mit Chaos und Terror gleichgesetzt. Die GWR wollte dazu beitragen, dass die anarchistische Bewegung gewaltfrei und die Gewaltfreien anarchistisch werden. Gewaltfrei bedeutet aber nicht wehrlos. Zum gewaltfreien Anarchismus zählt auch, einen Panzer zu sabotieren. Ich glaube, unser Konzept hat sich bewährt. Die GWR ist die größte anarchistische Zeitung in Deutschland.
Trotz des Erfolgs hat sich die bundesweite Graswurzelorganisation »FöGA« Ende der Neunziger aufgelöst, so wie kurz darauf die bundesweite Antifa-Organisation. Hat die GWR nicht ähnlich wie die Antifa ihre besten Zeiten hinter sich?
Die Organisation ist suspendiert. Aber es gibt weiterhin ein internationales Netzwerk, das beispielsweise gerade intensiv mit türkischen Graswurzlern an einer Kampagne für den Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke arbeitet.
Seit Franz-Josef Strauß unter der Erde und die »Vorsicht, Anarchisten«-Fahndungsplakate des BKA verschwunden sind, ist das Feindbild Anarchie ganz schön aus der Mode gekommen. Was tut ihr, damit es wieder auftaucht?
Gute Frage, aber uns geht es ja gerade darum, das Klischeebild vom bombenlegenden Anarchisten zu entkräften. Anarchismus ist eine Bewegung, die ernst zu nehmen ist, die sich nicht nur auf eine bestimmte Jugendphase, auf bestimmte äußere Erscheinungsmerkmale beschränkt.
In der Einleitung zu dem Buch »Ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert« steht aber, dass der Anarchismus wenig Möglichkeiten bietet, mit und in dieser Bewegung alt zu werden. Was tut ihr gegen das demographische Problem des Anarchismus?
Der GWR wird ab September die anarchistische Jugendzeitung utopia beiliegen. Die GWR ist ein bewegungs- und altersübergreifendes Projekt, wo Leute zwischen 15 und 89 mitarbeiten.
Die Zeiten der großen anarchistischen Theoretiker sind lange vorbei. In einer eurer letzten Ausgaben war von »Postanarchismus« die Rede. Was sind die neuen theoretischen Ansätze im Anarchismus?
Der moderne Anarchismus von heute ist natürlich nicht mehr der von Michael Bakunin. Ich halte den Begriff »Postanarchismus« für problematisch. Das erste, woran man bei diesem Begriff denkt, sind vielleicht Anarchisten, die sich bei der Telekom organisiert haben. Gemeint ist aber der Anarchismus in der Postmoderne.
Im Verfassungsschutzbericht von 2005 steht, dass eure Stärke unter anderem in »Trainingskollektiven« liegt. Ist es nicht deprimierend, wenn schon ein linker Turnverein als staatsgefährdend eingestuft wird?
Es kommt drauf an. Schon die Stasi hat uns als kleinbürgerlich und pseudorevolutionär bezeichnet. Außerdem könnte ich Mao zitieren: »Wenn der Feind uns bekämpft, ist das gut und nicht schlecht.« Man kann nachvollziehen, dass der Verfassungsschutz es nicht gut findet, dass wir mit gewaltfreien Mitteln den Staat bekämpfen wollen. Aber es ist ärgerlich. Allein durch die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht werden Berufskarrieren zerstört. Ich bin Doktor der Soziologie und habe jahrelang an der Universität gearbeitet. Seit vier Jahren habe ich aber de facto Berufsverbot. Da bin ich nicht der einzige. Allein die Mitarbeit in einer anarchistischen Zeitung ist für den Staat schon Grund genug, Verdacht zu schöpfen.
Eines der Highlights auf eurem Jubiläumsfest am Wochenende ist der »Schnupperkletterworkshop Baumbesetzung«. Muss man damit rechnen, dass die Verfassungsschützer schon in der Krone sitzen, während ihr versucht, auf den Baum zu klettern?
Es kann sein, dass bei dem Workshop auch Verfassungsschützer dabei sein werden. Aber es gibt Hoffnung. Die DDR war durchsetzt von Spitzeln und ist den Bach runtergegangen, vielleicht geht der Kapitalismus auch den Bach runter. Es stimmt aber, dass dem Verfassungsschutz auf der linken Seite viel Potenzial verloren gegangen ist. Es gibt eine Broschüre des Verfassungsschutzes, auf deren Titelseite das Logo der GWR, ein schwarzer Stern mit einem zerbrochenen Gewehr, abgebildet war. Direkt daneben waren das Hakenkreuz und Symbole der Hizbollah zu sehen. Das ist eine demagogische Gleichsetzung des gewaltfreien Anarchismus mit Nazis. Dem Verfassungsschutz fehlt die RAF. Die brauchen einfach neue Feindbilder.
Auch die aktuellen Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung scheinen das Ergebnis der fieberhaften Suche nach einer neuen RAF zu sein.
Die Vorwürfe, die dem Soziologen Andrej H. gemacht werden, sind ein klarer Fall von Gesinnungsjustiz. Das sind Konstruktionen, die an die siebziger Jahre erinnern. Dem Staatsschutzterror muss unbedingt etwas entgegengesetzt werden. Alle Beschuldigten sollten schnellstens freigelassen werden.
Heißt das, die gewaltfreien Anarchisten begrüßen das Anzünden von Bundeswehrautos?
Ich würde so was nicht machen, da bei Feuergeschichten immer Menschen verletzt werden können. Aber es ist keine terroristische Aktion, ein Bundeswehrfahrzeug zu zerstören. Im Gegenteil, es kann sogar dazu führen, dass mit diesem Fahrzeug keine Menschen umgebracht werden.
Interview: Doris Akrap
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