Zwischen allen Stühlen
GWR-Redakteur Bernd Drücke über gewaltfreien Anarchismus und wie man als Außenseiter etwas bewegen kann
Vor drei Jahren feierte die Monatszeitung "Graswurzelrevolution" (GWR) ihr 40-jähriges Bestehen, jetzt die 400. Ausgabe. Dienen die vielen Jubiläen der Lesergewinnung?
Sie schaden zumindest nicht. Die Aboentwicklung ist okay. Wir bekommen oft mehr Neuabos als Kündigungen. Die Zeitung wird durch Abos und Spenden finanziert, macht aber kaum Werbung und ist deshalb vielen unbekannt.
Wieso überlebte die GWR die Auflösung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, mit der sie eng verbunden war?
Die Föderation wurde 1980 als bundesweites Netzwerk anarchopazifistischer Gruppen mit antimilitaristischem Schwerpunkt gegründet und galt laut Verfassungsschutz als "größte anarchistische Organisation der Nachkriegszeit". Ihre Entstehung hängt eng mit der seit 1972 erscheinenden GWR zusammen. Von 1981 bis 1988 war die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen Herausgeberin der GWR. Seitdem wird die Zeitung wieder von einem unabhängigen Kreis herausgegeben, der sich aus etwa 40 Menschen zusammensetzt und alle Entscheidungen basisdemokratisch fällt. 1997 wurde die Föderation aufgelöst. Aber es gibt etliche ehemalige Mitglieder, die noch politisch aktiv sind und uns nahe stehen. Dazu findet sich einiges in der GWR 400.
Hatte diese Selbstständigkeit auch etwas Befreiendes, weil es jetzt keine politische Gruppierung mehr gab, die Einfluss nehmen konnte?
Die GWR ist assoziiertes Mitglied in einem globalen antimilitaristischen
Netzwerk, den War Resisters' International. Sie hat sich in den
letzten Jahren geöffnet. Sie ist ein Sprachrohr emanzipatorischer
sozialer Bewegungen aus aller Welt, von Anarchisten, Gewaltfreien
Aktivisten, Feministinnen, Anti-Atom-, Anti-Gentech-, Anti-TTIP-Aktiven,
von antirassistischen Gruppen, Antifas, Blockupy bis hin zu Menschen,
die sich gegen Abschiebungen oder den Klimakiller Kohle stemmen.
Welchen Stellenwert hat der gewaltfreie Anarchismus heute in der außerparlamentarischen Linken?
Wir sind Außenseiter, können aber etwas bewegen. Wir wollen eine gewaltfreie Umwälzung von unten und vertreten Positionen, die anderswo nicht vorkommen. Nehmen wir das Beispiel Ukraine-Konflikt, da sitzen wir zwischen allen Stühlen. Wir lassen Anarchisten und Antimilitaristen aus Russland und der Ukraine zu Wort kommen, unterstützen die Deserteure und Verweigerer aller Kriegsparteien und agitieren sowohl gegen das homophob-autoritäre Putin-Regime als auch gegen NATO, EU, ukrainische und ostukrainische Nationalisten. Leider ist der gewaltfreie Anarchismus immer noch eine Nischenbewegung. Aber dass heute direkte gewaltfreie Aktionen und basisdemokratische Entscheidungsfindungen innerhalb der sozialen Bewegungen selbstverständlich sind, ist auch dem jahrzehntelangen Engagement von gewaltfreien Anarchistinnen zu verdanken
Wie ist Ihr Verhältnis zu marxistischen Ansätzen, die sich von autoritären Parteikonzepten distanzieren?
Kritisch-solidarisch. Der antiautoritäre Marxist John Holloway war zum Beispiel häufiger Interviewpartner und unter unseren Autoren sind auch Zapatistas und libertäre Marxisten. Als libertär-sozialistisches Blatt diskutieren wir undogmatisch-marxistische Theorieansätze aus anarchistischer Sicht.