"Anarchie ist kein Chaos"
Dr. Bernd Dr�cke ist Soziologe. Seine Dissertation an der Uni M�nster �ber "Libert�re Presse in Deutschland 1985 bis 1995" gibt es seit Juli 98 auch als Buch: " Zwischen Schreibtisch und Stra�enschlacht?". Er ist Lehrbeauftragter am Institut f�r Soziologie und h�lt bundesweit Vortr�ge zum Thema. Und: Bernd Dr�cke ist - neben Irene Kober (M�nchen) - hauptamtlicher Redakteur der gewaltfrei-anarchistischen Zeitung graswurzelrevolution. Die hat im Juli ihre 250. Nummer ver�ffentlicht.
taz m�nster: Wie hat alles angefangen?
Bernd Dr�cke: 1972 gab u.a. Wolfgang Hertle die erste Ausgabe in Augsburg heraus. Aber es gab Vorl�ufer in den 60ern: in Lausanne und Hannover, Wolfgang Weber-Zucht gr�ndete die erste Graswurzelwerkstatt. Wir sind vernetzt in der "War Resisters International". Die besteht seit 1921.
Die GWR ist dezentral organisiert. Der Redaktionsort wechselt, wie die RedakteurInnen, immer wieder. Seit wann ist es M�nster?
Ende 98 hatten sich 10 M�nner und eine Frau beworben. Nach mehrst�ndiger Diskussion entschied sich der HerausgeberInnenkreis f�r Irene Kober und mich. Die Rezension meines Buches als "Meilenstein der Anarchismusforschung" hat da sicher geholfen. Nach viel zu kurzer Einarbeitungszeit von zwei Wochen begann ich dann im Fr�hjahr 99.
Wie lange noch?
Noch mindestens 1, 2 Jahre. Die Stellen werden ca. alle drei bis vier Jahre ausgeschrieben.
Was macht die GWR aus ?
Die GWR ist eine Bewegungszeitung, die zeigt, dass es auch ohne hierarchische Strukturen geht. Es gibt keinen Chefredakteur, sondern den offenen, basisdemokratischen HerausgeberInnenkreis, dessen Entscheidungen mit 75prozentiger Mehrheit zustande kommen m�ssen, meist aber im Konsens fallen. Ein weiterer Unterschied zur herk�mmlichen Publizistik: Es wird meist in der 1. Person geschrieben, aus der Sicht der Betroffenen - nicht �ber etwas. Durch ein weltweites MitarbeiterInnennetz berichten wir viel aus dem Ausland; von unten, nicht von oben herab. Die Belgrader "Frauen in Schwarz" haben f�r uns geschrieben, von den Protesten gegen den WTO-Gipfel in Seattle hatten wir einen Exklusivbericht... Inzwischen gibt es auch einen Graswurzelverlag in der T�rkei, mitgegr�ndet von GWR-Mitarbeiter Osman Murat �lke, dem wohl bekanntesten �ffentlichen Kriegsdienstverweigerer dort.
Es hat sich in fast 30 Jahren aber auch etwas ver�ndert?
Im Anfang war die GWR fast ausschlie�lich Zeitung gewaltfreier Anarchisten und Antimilitaristen � meistens M�nner. Damals ging es etwa um die Unterst�tzung von Kriegdienstverweigerern im faschistischen Spanien. Inzwischen sind wir Sprachrohr auch sozialer, sozialrevolution�rer Gruppen, von Anti-AKW-, aber auch Menschenrechtsgruppen wie "Pro Asyl".
Im letzten Verfassungsschutzbericht des Bundes seid Ihr gar nicht erw�hnt � wie kommt das denn?
Wir sind wohl "zu etabliert". Im Ernst: Erstmals seit 28 Jahren schreiben die nichts �ber uns. Obwohl es j�ngst zwei weitere Urteile wegen des Desertionsaufrufs im Kosovo-Krieg gab: Wolfgang Hertle ist verknackt, Tobias Pfl�ger freigesprochen worden. �98 hat uns der nieders�chsische Verfassungsschutzbericht noch vier Seiten gewidmet. Da wurden der GWR Anti-Gentechnik-Kampagnen angelastet.
Zur Bewegungszeitung geh�rt eine Bewegung. Was hei�t das f�r M�nster?
Der Arbeitskreis Graswurzelrevolution trifft sich ca. alle vier Wochen. Da werden dann gewaltfreie Aktionen diskutiert und vorbereitet. Wir waren 1999 bei den w�chentlichen Demos gegen den Jugoslawienkrieg mit mehreren Beitr�gen vertreten. In diesem Jahr bei Aktionen gegen den Gro�en Zapfenstreich, "Unser Heer" und die "evening marches". Wir haben uns an der Paul Wulf-Ged�chtnisveranstaltung beteiligt - die Brosch�re kann bei uns bezogen werden. K�rzlich hatten wir eine Veranstaltung gegen den Tschetschenienkrieg mit dem russischen Antimilitaristen Nikolai Khramov.
Wie sieht Deine Arbeit an der Uni aus?
Zusammen mit Dieter Keiner habe ich 1997 ein Seminar zum "Deutschen Herbst 1977 - "Twenty Years After" - gegeben. Das war nicht nur �berf�llt, sondern auch das einzige, das die Studierenden im Streik weitermachen wollten. Gerade l�uft der erste Teil meines Seminars zu Anarchie und libert�rer Presse aus; im Wintersemester geht�s weiter. Das Interesse ist gro�.
Die Zeiten gro�er Widerstandsbewegungen scheinen aber einstweilen vorbei zu sein. Was macht die Auflage der GWR?
Zu Hochzeiten der Friedensbewegung hatte unser Sonderheft "Soziale Verteidigung" eine Auflage von 25.000. Damals wurde die GWR haupts�chlich per Handverkauf verbreitet, besonders durch BI�s. Heute liegt die Auflage der Sonderhefte bei 5 � 7.000, die der normalen Ausgaben bei 4.000. Der Handverkauf macht nur noch ein Viertel aus. Daf�r haben wir stabil ca. 2900 Abos. Unter den "Kleinen" sind wir die "Gr��te". Die GWR ist durchaus ein Erfolgskonzept. Ein weiterer Beleg, dass Anarchie nicht Chaos, sondern eine funktionierende Organisationsform ist.
Interview: Marcus Termeer
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